
Eingang zur rekonstruierten Höhle von Chauvet Fotos: Bücheratlas
Der erste Künstler? Manche meinen ja, dass es sich dabei um eine göttliche Erscheinung gehandelt haben muss. Von wegen Erde und so. Aber auch Sonne, Mond und Sterne. Und überhaupt die Sache mit dem Weltraum ohne Ende. Wenn das einer angelegt haben sollte, dann Chapeau! Aber solange wir darüber nichts Definitives wissen, können wir uns an die weltlichen Schöpfer wenden, die sich in der Steinzeit ans Werk gemacht haben. Im heutigen Australien oder Spanien. Oder vor 36.000 Jahren – oder sind es nur 33.000 Jahre? – im Süden des heutigen Frankreich. Hunderte vorzeitliche Tiere sind in der (nach einem ihrer Entdecker benannten) Chauvet-Höhle verewigt. Prächtige und kräftige Geschöpfe. Lange fristeten sie ein einsames Höhlendasein. Bis sie am 18. Dezember 1994 wiederentdeckt wurden. Heute ist die Grotte ein offizielles Weltkulturerbe der Menschheit.
Was in der Chauvet-Höhle in der südlichen Ardèche zu bewundern wäre, dürfte man sie besuchen, ist ein Menschheitsschatz. Besichtigen kann man aber nicht den authentischen Schauplatz, sondern eine eindrucksvolle Replik. Die „Caverne du pont d’Arc“ trägt den Anspruch größtmöglicher Entsprechung mit dem Original wie ein Banner vor sich her. Die echte Höhle hielte den Ansturm der Massen, zumal die von ihnen produzierte Luftfeuchtigkeit, nicht aus. Selbst das Imitat, das 2015 eröffnet worden ist, wollen heutzutage gewaltige Massen sehen. Für den Besuch der rekonstruierten Höhle, die ganzjährig geöffnet ist, empfiehlt sich (wie in Lascaux, aber anders als in Altamira) eine Online-Reservierung.
Zuweilen im Fünf-Minuten-Abstand und für insgesamt 55 Minuten werden die Besucher durch die riesige Pseudo-Höhle in der Nähe von Vallon-Pont-d’Arc geführt. Unser Führerin Nelly sagt vorab, dass sie im weiteren Verlauf nicht mehr von einer Imitation oder Replik reden werde, damit wir alle den Zauber empfinden könnten, den die vielfältigen Zeichnungen von Tieren bei den Hobby-Forschern und Zufalls-Entdeckern Jean-Marie Chauvet, Éliette Brunel Deschamps und Christian Hillaire 1994 ausgelöst haben. Tatsächlich sind die Ritzungen und Holzkohlezeichnungen und farbigen Darstellungen von Pferden, Bären, Mammuts, Büffeln oder einer Eule ausdrucksstark. In ihrem gestaffelten Aufbau wirken sie zuweilen „modern“. Und oft so vital wie das allem Anschein nach Blut speiende Nashorn.
Schade nur, dass der Mensch der Steinzeit nicht zum Selbstporträt neigte. Keine Spur von Selfie-Lust, nichts los in Sachen Narzissmus. Nicht einmal das Verlangen war ihm eigen, seine engsten Artgenossen auf die Felswand zu bannen. Vielleicht ein Ausdruck ursprünglicher Bescheidenheit.
Martin Oehlen