
Aus vielen Blickwinkeln beleuchtet Mario Vargas Llosa – hier in Düsseldorf im Jahre 1992 zu sehen – den Liberalismus. Foto: Bücheratlas
Mario Vargas Llosa ist ein politische Autor, wie er nicht einmal im Buche steht. Derart weit wie er haben es nicht viele getrieben. So hat das politische Engagement den Peruaner mit dem spanischen Pass im Jahre 1990 bis dicht vor die Tore des Präsidentenpalastes in Lima geführt. Die entscheidende Stichwahl allerdings verlor der Vertreter eines Liberalen Bündnisses („Frente Democrático“) gegen Alberto Fujimori. Seine einschlägigen Erfahrungen hat er 1993 in dem Buch „Der Fisch im Wasser“ veröffentlicht.
Nun legt Mario Vargas Llosa einen Band vor, der seine politische Position grundsätzlicher fasst. „Der Ruf der Horde“ ist die „intellektuelle Autobiografie“ des Literaturnobelpreisträgers von 2010. Dabei handelt es sich um locker verbundene, sich gelegentlich leicht überschneidende Essays über Intellektuelle, die sein Denken geprägt haben. Allesamt sind es solche, die den Liberalismus gedeutet und gepriesen haben: Adam Smith, José Ortega y Gasset, Friedrich August von Hayek, Karl Popper (dem der Buchtitel zu verdanken ist), Raymond Aron, Isaiah Berlin und Jean-François Revel.
Der Liberalismus, schreibt Vargas Llosa, gehe anders als der Marxismus nicht davon aus, eine Antwort auf alles zu haben. Zentral sei der Gedanke, dass die Freiheit der höchste Wert sei. Für diese Position wirbt der Autor, der seine politische Karriere als Kommunist begonnen hat. Inspiration für jenen Beginn war ihm einst die kubanische Revolution von 1958 gewesen. Viele glaubten damals, dass Fidel Castros Sozialismus bereit sei für Vielfalt und Kritik. Auch Mario Vargas Llosa. Doch es kam anders. Seine Castro-Euphorie kühlte Ende der 60er Jahre ab. Zum Bruch kam es, als der Regimekritiker Heberto Padillo eingesperrt und als CIA-Agent beschuldigt wurde.
Vargas Llosa präsentiert nun die zentralen Gedanken „seiner“ Philosophen. Dies tut er mit sprachlicher Souveränität – die deutsche Übersetzung stammt von Thomas Brovot – und mit einer Klarheit der Darlegung, die ihm selbst eine Herzenssache ist. Mehr als einmal weist er darauf hin, wie sehr dieser oder jener verehrungswürdige Autor das okkulte Schreiben mancher Intellektueller verachtet habe.
Was es nicht alles zu loben gibt. Bei Smith („Der Wohlstand der Nationen“) dessen „Entdeckung des freien Marktes als Motor des Fortschritts“. Bei José Ortega y Gasset („Der Aufstand der Massen“) das frühe und am Vorabend des Zweiten Weltkrieges überraschende“ Eintreten für ein vereintes Europa“. Bei Friedrich August von Hayek („Der Weg zur Knechtschaft“) die zum Gemeinplatz gewordene These, dass „eine zentrale Wirtschaftsplanung die Fundamente der Demokratie“ untergrabe. Bei Karl Popper („Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“), dem das längste Kapitel gewidmet ist, die Theorie vom Heraustreten des Individuums aus der Horde im vorsokratischen Griechenland. Bei Raymond Aron („Opium für Intellektuelle“) der Kampf gegen die Fürsprecher des Kommunismus. Bei Isaiah Berlin („Wider das Geläufige“) die Betonung der praktischen Vernunft, derzufolge Systeme flexibel bleiben müssen. Und schließlich preist er Jean-François Revel („Le voleur dann la maison vide“) vor allem für seine Neugier, seine Integrität und seinen Hang zur Polemik.
Bei aller Verehrung bleibt aber auch Zeit für Einwände. Smith verwickele sich in „Widersprüche“, heißt es. Ortega y Gassets kulturelle Überheblichkeit sei ein „Schwachpunkt“, Friedrich August von Hayek mangele es an Anschaulichkeit, Witz und Eleganz. Und Poppers Werk kranke „zuweilen an Ungenauigkeit, kippt sogar ins Konfuse“. Gerne auch liest man manche Spitzzüngigkeit, an der man den Zeitungs-Kolumnisten zu erkennen meint, der MVL auch ist. So wird Miguel de Unamuno dafür kritisiert, dass er „neben anderem Unsinn, dessen er sich nicht enthalten konnte“, behauptet habe, Europa müsse hispanisiert werden.
Liest man diese Ideengeschichte, so fühlt man sich durchaus bereichert und erfrischt. Es ist eine Feier des freien Denkens und Handelns, die uns den Autor wie auch die Grundzüge des Liberalismus näherbringt. Dass er dabei Margaret Thatcher und Ronald Reagan zu Politikern erklärt, die den Liberalismus in der politischen Praxis realisiert hätten, wird freilich nicht jedermann überzeugen. Auch Vargas Llosa kritisiert die teilweise reaktionären Ansichten dieser Staatenlenker in gesellschaftlichen und moralischen Fragen. Aber unterm Strich – mit Blick auf Politik und Wirtschaft – ist er überzeugt, dass beide der „Kultur der Freiheit einen großen Dienst erwiesen haben.“
„Der Ruf der Horde“ ist kein Roman. Aber den Romancier wird man bei der Lektüre nicht vermissen müssen. Denn Vargas Llosa kehrt ein ums andere Mal zu seinem zentralen Metier zurück. Zum einen verweist er des Öfteren darauf, was das freie Denken mit dem Erzählen zu tun hat. Beiläufig wird da der Roman definiert: „eine willkürliche Organisation der Wirklichkeit, eine Ordnung, die den Menschen Schutz bietet, sobald sie erahnen, was für ein einziges großes Chaos die Welt ist, das Leben.“ Zum anderen erweist er sich als der Erzähler, der er ist, indem er mit sicherem Zugriff jene Momente aus dem Leben seiner intellektuellen Heroen erzählt, die von poetischer Kraft sind. Das geht gleich los mit Adam Smith. Über ihn heißt es: „Er war ein kränkliches Kind, alles andere als anmutig, und noch bevor er für seine Klugheit bekannt wurde, war er es für seine außerordentliche Zerstreutheit.“ So könnte ein Roman beginnen, den wir gerne lesen würden.
Martin Oehlen
Mario Vargas Llosa: „Der Ruf der Horde – Eine intellektuelle Autobiografie“, dt. von Thomas Brovot, Suhrkamp, 316 Seiten, 24 Euro. E-Book: 20,99 Euro.