
Tut so, als schliefe er. Aber das ist nur eine Neckerei. Wir wollen unseren Kraken nicht vermenschlichen, aber der hatte es faustdick hinter seinen – na, da halt. Foto: Bücheratlas
Dürfen wir persönlich werden? Okay, danke!
In einem Aquarium im südlichsten Südfrankreich trafen wir auf einen Kraken, den wir gemeinhin Tintenfisch zu nennen pflegen. Octopus. Pulpo, Je nach Speisekarte. Wie der nun so alleine in seinem engen Wasser-Container saß, fühlten wir von Sekunde zu Sekunde stärker, dass das Tier auf Kontaktsuche war. Nein, nicht nur beobachtete er uns aus seinen leicht verhangenen Augen. Als wir, allein im weiten Raum, mit dem Finger dem Behältnis mal da und mal dort näherkamen, streckte das Tier seine Tentakeln aus. Es drückte die Säugnäpfe genau dort ans Glas, wo wir unsere Fingerabdrücke (nicht sichtbar) hinterlassen hatten. Der Krake war ein echt guter Typ. Ihn alleine zurückzulassen, auch wenn wir ihm nur ein paar Minuten Gesellschaft geleistet hatten, war wie eine kleine emotionale Delle.
Von der Seite kannten wir das Tier noch gar nicht (und von der kulinarischen Seite wollen wir beschämt schweigen). Dass so ein Tintenfisch mehr als ein Klumpen kooperierender Zellen ist, hätte Peter Godfrey-Smith freilich nicht überrascht. Der Philosophie-Professor, der in Sydney und New York lehrt, hat sich eingehend mit dem Kraken an sich befasst. Als Taucher und als Forscher. Was in diesem Falle kein Unterschied ist. Und was er dabei – zumal in seinem unterseeischem „Octopolis“ an der Ostküste Australiens – erfahren hat, ist nun in einer Übersetzung von Dirk Höfer nachzulesen: „Der Krake, das Meer und die tiefen Ursprünge des Bewusstseins“.
„Wir können an Land nur deshalb zurechtkommen, weil wir eine enorme Menge Salzwasser mit uns herumtragen“ – so lautet einer der schönsten Sätze des Buches. Wahrnehmung, Verhalten und Koordination, lesen wir, seien wesentlich geprägt worden im Meer. Dort also, wo der Krake zu Hause ist. Kopffüßern wie Kraken, Sepien und Kalmaren ist gemeinsam, dass sie über ein großes und komplexes Nervensystem verfügen. Das unterscheidet sie von vielen, die da um sie herum schwimmen oder kriechen. Einzelgänger sind es, die ihre Haut in viele Farben werfen können. Ihre Wirbellosigkeit macht sie extrem geschmeidig. Sie sehen alt aus, haben aber zumeist eine Lebenserwartung von lächerlichen zwei Jahren – ein Faktum, das der Autor zu einer besonders ertragreichen Betrachtung des jähen Alterns nutzt.
Vor allem aber sind diese Weichtiere, befreit von ebenso beengenden wie schützenden Schalen, intelligente Wesen. Das macht Godfrey-Smith an vielen Beobachtungen fest. Es ist allerdings nicht seine Entdeckung. Er zitiert Claudius Aelianus, der schon im dritten nachchristlichen Jahrhundert der interessierten Öffentlichkeit mitteilte: „Schabernack und Listigkeit müssen schlechterdings als Wesensmerkmale dieser Kreatur angesehen werden.“
Ausdrücklich ist dies ein philosophisches Buch. Wer eine kompakte biologische Analyse benötigt, sollte zunächst zu anderer Lektüre greifen. Hier geling es dem Autor in acht anschaulichen, schön schwingenden Kapitel- Schleifen, den Respekt für den Kraken weiter zu steigern und das Wunder der Evolution zu feiern. Ihm ist das Tier gleichsam der Hinweis darauf, dass „der Geist“ im Wasser entstanden ist. Im Meer haben die frühen Stadien dessen angefangen, was den Menschen ausmacht. Daher wünscht sich Peter Godfrey-Smith auch, dass die Lektüre des Buches das Bewusstsein für die Schutzwürdigkeit dieses Ökosystems steigern möge. Und dass der Krake darin ein so feiner wie faszinierender Typ ist – das bestätigt seine Betrachtung allemal.
Martin Oehlen
Peter Godfrey-Smith: „Der Krake, das Meer und die tiefen Ursprünge des Bewusstseins“, dt. von Dirk Höfer, Matthes & Seitz, 296 Seiten, 28 Euro. E-Book: 23,99 Euro.