
Von A bis Y reichen die 25 Kapitel-Überschriften in Gunther Geltingers Roman „Benzin“. Sie sind so farbintensiv wie diese Souvenirartikel an einem Marktstand in Südafrika. Fotos: Bücheratlas
Vielleicht hätte Nyami Nyami helfen können. Der Flussgott mit dem Fischkopf und dem Schlangenkörper, der im Zambezi zuhause ist. Im Süden Afrikas erzählt man sich, dass die mythologische Gestalt einst für Schutz gesorgt habe, wenn die Not groß gewesen sei. Doch nach dem Bau eines Staudamms in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts habe sich Nyami Nyami zurückgezogen. Der Flussgott also wird Vinz, der problembeladenen Hauptfigur in Gunther Geltingers Roman „Benzin“, kaum zu Hilfe eilen.
Vinz und Alexander, der Schriftsteller und der Biologe, sind nach Südafrika geflogen. Sie befinden sich auf einer Urlaubsreise wie schon so oft zuvor. Doch diesmal geht es ihnen nicht nur um das exotische Touristenziel, sondern vor allem um ihre Beziehung. Die ist in Gefahr, seit sich Vinz in Manuel verliebt hat. Manuel ist eine Weile ein virtueller Reisebegleiter – denn via Smartphone bleiben er und Vinz in Kontakt. Die Intensität schwindet allerdings, nachdem es einen folgenreichen Unfall gegeben hat. Die beiden Deutschen, in der Dunkelheit mit ihrem Mietwagen unterwegs, fahren einen Anhalter an: „Da liegt einer, oh Gott!“ Doch Gott ist weit weg, heißt es, und Vinz drückt „wie im Reflex die Türverriegelung“.
Unami erleidet zwar nur leichte Verletzungen. Doch Vinz und Alexander sind geschockt und auf Wiedergutmachung aus. Aus dem Fremden wird ein Guide, nahezu ein Freund, was der Name, wenn man ihn nur aufs Französische zurückführt, auch hergibt – un ami.
Ein Roman wie ein Tosbecken
Gunther Geltinger ist mit „Benzin“ ein verstörender, ein fesselnder Roman geglückt. Er gleicht zuweilen einem Tosbecken, wie der Auffangbereich von Staudämmen oder Wasserfällen genannt wird, für die Vinz seit Kindertagen eine Leidenschaft hegt. Ein Tosbecken deshalb, weil Geltinger nicht nur die verzwickte Beziehungskrise eines homosexuellen Paares schildert, das sich mit verblüffender Energie auf Dating-Portalen mit anderen Männern verabredet. Auch konfrontiert er die beiden Männer – die zu Recht darauf gebaut hatten, dass „die konservative Kanzlerin sich zur Ehe für alle durchränge“ – mit ihren Ängsten, Sorgen und Vorurteilen gegenüber der Fremde. Überdies gilt es, sich der politischen Krisenlage im Süden Afrikas zu stellen. Als hätten sie nicht schon mit sich selbst genug zu tun, fordern ihnen auch noch Armut, Gewalt und Homophobie viel Aufmerksamkeit ab. Zumal in Zimbabwe, wo Vinz die Victoria-Fälle sehen will und wo gerade Diktator Robert Mugabe gestürzt wird. Schließlich trägt das Paar die Schuldgefühle des weißen Westens mit sich, der einst den Kontinent unterdrückt hatte. Was beispielsweise zu der Frage führt, ob man dem – wie sich später herausstellt – an Aids erkrankten Unami nicht ein besseres Leben in Deutschland ermöglichen sollte, nein, müsste.
Zu all diesem Tosen kommt, dass der in einer Schreibkrise steckende Vinz einen Roman über die Südafrika-Reise plant. Die verstreuten Referenzen an die Mühen, Tricks und Möglichkeiten des Erzählens sind zahlreich. Zwei Titel hat Vinz schon veröffentlicht, worin er seinem Schöpfer Geltinger gleicht, der im Jahre 2008 „Mensch Engel“ und 2013 „Moor“ veröffentlicht hat. Vinz hat in beiden Fällen, anders als sein realer Kölner Kollege, die Beziehung zu Alexander als Fiktionsmaterial verwendet. Nun denkt er immerzu nach, was er schreiben könnte und was er lieber lassen sollte. Das verleiht der Geschichte eine Art Verfremdungseffekt und sorgt sogar für einen der seltenen heiteren Momente im Text: „Der Roman musste auch an den Kassen der Buchhändler ein Erfolg werden“, schreibt Vinz, „anderenfalls könnten die Schauplätze seiner weiteren Werke erheblich bescheidener ausfallen.“ Immerhin gibt es Unterstützer: Vinz formuliert einmal einen Recherchebericht an die Kulturstiftung, die sein Schreiben mit einem Werkstudium unterstützt; Geltinger selbst, das entnehmen wir einem Hinweis im Buch, kann gleich fünf Förder-Institutionen danken.
Bannende, zuweilen alptraumhafte Szenen einer Reise
Sein Roman springt in der Chronologie mal vor und mal zurück. Das mag nicht immer zwingend einleuchten, schärft aber allemal die Aufmerksamkeit. Beim Leser, dem das fehlende Puzzleteil dann doch noch gereicht wird, stellt sich zudem der entspannende Effekt des Ach-so-war-das ein. Zur Ruhe kommt er freilich nie. Was auch daran liegt, dass die Geschichte zum einen eine „Road Novel“ ist, die kein Innehalten kennt. Und zum anderen bietet sie bannende, zuweilen geradezu alptraumhafte Szenen: Der Unfall, der kafkaeske Grenzübertritt, das Stranden an einer Tankstelle im Niemandsland, manches mehr. Das Erzählnetz, das hier ausgelegt wird, ist engmaschig gestrickt. Es ist reich an Natur-Allegorien – von der gescheiterten Amselrettung bis zum unbezwingbaren Wasserfall. Auf einige Analogien zum Paul-Bowles-Roman „Himmel über der Wüste“ wird verwiesen. Und wie vielfältig das titelgebende Benzin zum Einsatz kommt, befeuernd im guten und im mörderischen Sinne, bezeugt den souveränen Autor.
Gunther Geltinger buchstabiert seinen Roman in 25 Kapiteln – von A wie Alarm bis Y wie die Chromosomen YY („eine Totgeburt“). Das finale Kapitel, das dem Z zustünde, fehlt. Kein Ende, nirgends. Die Geschichte geht weiter. Ihre Richtung hängt davon ab, ob sich Vinz und Alexander wie verabredet beim Boarding um 17.20 Uhr treffen. Vielleicht könnte ihnen Nyami Nyami als Eheberater helfen. Aber leider schmollt der afrikanische Flussgott.
Martin Oehlen
Gunther Geltinger: „Benzin“, Suhrkamp, 378 Seiten, 24 Euro. E-Book: 20,99 Euro.
Buchpremiere am 12. März um 19.30 Uhr im Literarischen Kolloquium in Berlin.
Lesung in Köln am 14. März um 19.30 Uhr im Literaturhaus Köln.
Weitere Lesungen auf der Leipziger Buchmesse.