Besuch bei Lien de Jong, die als Kind in Holland den Holocaust überlebt hat

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Lien de Jong als Teenager in der Kleidung der Arbeiders Jeugd Centrale, einer sozialistischen Jugendbewegung nach dem Krieg. Foto: de Jong/DuMont

Es gibt eine wichtige Adresse im Leben der Lien de Jong. Sie lautet „Bilderdijkstraat Nr. 10, 3314 RB Dordrecht, Niederlande“. Heute steht hier ein Gebilde aus Stahl. Dahinter liegt eine kleine Rasenfläche. Moderne Backsteinhäuser säumen die Straße.

Lien de Jong hat andere Bilder im Kopf.  Ein einstöckiges  Haus, durch das vier Kinder toben. Eine Frau mit herben Zügen und rosigen Wangen, die  sie irgendwann  „Ma“ nennen wird. Einen sonnigen Hinterhof und eine Küche, die nach Zwiebeln riecht.  Ein halbes  Jahr war sie hier zu Hause – von August  1942 bis zum Frühjahr 1943.

Heute lebt Lien de Jong in Amsterdam, in einem Wohnblock,  den sie mit  anderen alten Menschen teilt. „Wir helfen uns gegenseitig“, sagt sie. Ihre Stimme klingt heiser – eine Erkältung, eingefangen vor ein paar Tagen.  Lien de Jong 85 ist Jahre alt, und hinter ihr liegt ein Leben, das sie viele Jahre  für nicht erzählenswert hielt.  Dass  das ein Irrtum war, hat ihr ein Literaturprofessor aus  Oxford bewiesen: Bart  van Es, der Enkel jener  Frau, die sie einmal „Ma“ nannte. Er hat über das jüdische Mädchen, das einst ein Teil seiner Familie  war, ein berührendes Buch geschrieben: „Das Mädchen mit dem Poesiealbum“.

Nach einem Zerwürfnis mit „Ma“, der  Großmutter von Bart van Es, war der Kontakt zwischen Lien de Jong und der Familie Anfang der 1980er Jahre abgebrochen.  Über  Lien sei nicht gesprochen worden, erinnert sich  der  Enkel. „Das war ein Tabuthema.“ Nur seine Mutter habe  den Kontakt  gehalten.  Erst als  im November 2014 ein  Onkel  stirbt, beginnt er  nachzuforschen, was  aus dem geheimnisvollen  Mädchen geworden ist.   „Ich dachte, wenn du  jetzt nicht nachhakst, ist diese Geschichte für  immer verloren.“ Von seiner Mutter erhält  er Liens E-Mail-Adresse, wenige Wochen später kommt es zu einem Treffen.

„Ich habe ihm noch ein paar Sandwiches angeboten“

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Lien de Jong und Bart van Es in Amsterdam Foto: Bücheratlas

Auf einen Kaffee habe Bart an jenem 21. Dezember 2014, dem Tag ihrer ersten Begegnung,  vorbeischauen wollen, sagt Lien de Jong.   „Ich habe ihm  noch ein paar Sandwiches angeboten.“ Geblieben sei er bis weit in den Abend hinein. Und so oft  wiedergekommen, bis er ihre ganze Geschichte  gekannt habe. Die Geschichte eines Kindes, das während des Zweiten Weltkriegs von niederländischen Widerstandskämpfern versteckt wird und nach dem Krieg nur mühsam zurückfindet ins Leben.

Lien ist das einzige Kind von Charles und Catharine  de Jong, ein zartes Mädchen mit dunklen Locken. Die  Familie  lebt  in  Den Haag. Es gibt zwei Großväter, zwei Großmütter und zahlreiche  Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen.  Außer Lien werden nur zwei Familienmitglieder den Holocaust überleben.

Mit der Besetzung Hollands im Mai 1940 beginnen die Repressalien gegen die jüdische  Bevölkerung.  In ihren Personalpapieren steht jetzt ein großes „J“.  Nachbarn und Freunde distanzieren sich. Bald muss auch Lien einen Judenstern  tragen,  seit September 1941 besucht sie eine jüdische Schule. Auf dem Heimweg wird sie oft mit Steinen beworfen. „Wir haben einen Juden gefangen“, singen die Kinder, die sie einkreisen und festhalten.

Charles und Catharine de Jong müssen spätestens im Sommer 1942 geahnt haben, dass ihre Deportation kurz bevorstand. An einem warmen  Augustabend flüstert die Mutter Lien  beim Zubettgehen zu: „Du wirst eine Weile woanders wohnen.“  Das sei ein Geheimnis, und sie dürfe es niemandem verraten. Bereits einen Tag später findet  im Haus de Jong  ein großes Familienfest statt. Alle Tanten und Onkel, die Cousins und   Cousinen sind gekommen.  Lien wird von Schoß zu Schoß gereicht. Sie  wird geherzt und   gestreichelt, bis ihr spätabends die Augen zufallen. Dass die Feier ein Abschiedsfest für sie ist, wird sie erst  viele Jahre später  begreifen.

Bereits am  nächsten Tag wird die knapp Neunjährige von einer unbekannten Frau  abgeholt und nach Dordrecht gebracht, in die Bilderdijkstraat Nr. 10. In ihrer Manteltasche steckt ein Brief  der Mutter, den Lien de Jong  bis heute aufbewahrt: „Sehr geehrter Herr, sehr geehrte Frau , ich kenne Sie zwar nicht, stelle Sie mir  aber als der Mann und die Frau vor, die sich wie ein Vater und eine Mutter meines einzigen Kindes  annehmen werden.  Die Umstände bringen es mit sich, dass ich meine Tochter nicht bei mir behalten kann. Sorgen Sie  für sie, als ob sie Ihr eigenes Kind wäre.  Wenn Gott es will,  werden wir alle uns nach dem Krieg glücklich wiedervereint die Hand reichen.“

Der Wunsch von Catharine  de Jong  geht nicht in Erfüllung. Sie wird  gemeinsam mit ihrer Mutter am  9. November  1942  in Auschwitz ermordet. Charles de Jong stirbt  am 6. Februar  1943  in der Todesfabrik. Geblieben aus ihrer Kindheit sind Lien de Jong  zwei Briefe der Eltern zu ihrem neunten Geburtstag am  7.   September 1942,  ein Kinderbuch, das ihr die Mutter als Geburtstagsgeschenk  schickte, einige wenige Fotos  und ein Poesiealbum.

Mehr als 4000 jüdische Kinder in den Niederlanden erleiden ein ähnliches Schicksal.  Sie  werden auf  Bauernhöfen,  Dachböden und in abgelegenen Häusern vor dem Zugriff der Nazis versteckt. Und meist sind sie die einzigen Überlebenden der Familie.

Lien kommt  bei der fünfköpfigen Familie van Es unter.  Henk und Jans van Es sind  schlichte, dem Sozialismus verpflichtete Menschen, die schon mehrere   Kinder aufgenommen haben. Für Lien  wird die Bilderdijkstraat   zu einem Zufluchtsort, an den sie sich noch Jahre später zurücksehnt.  „Die van Es  waren meine Familie. Dort war ich zu Hause.“

„Ich habe sie bewundert, dass sie mich wieder aufgenommen haben“

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Lien de Jong (links) mit den Kindern der Familie van Es  Foto: de Jong/DuMont

An ihre leiblichen Eltern habe sie jahrelang nicht  mehr gedacht. Auch später, als  Erwachsene,  habe sie keine Nachforschungen über das Schicksal von  Charles und Catharine de Jong angestellt. „Ich wusste ja, dass sie tot waren.  Ich  kenne ihr Geburts- und ihr Todesdatum. Alles andere ist Vergangenheit. Und ich möchte nicht in der Vergangenheit leben, sondern in der Gegenwart. Das ist möglich, auch wenn ein Mensch in seiner Kindheit und Jugend schreckliche Dinge erlebt hat.“

Liens Versteck  wird   im Frühjahr 1943 verraten. Hals  über Kopf  muss die Neunjährige fliehen, als  zwei Männer in Polizei-Uniform vor der Tür stehen: niederländische Nazischergen, die systematisch Jagd auf Juden machen.  Für Lien beginnt damit eine  mehrjährige Odyssee quer durch die besetzten Niederlande. Mehrmals  muss sie das Versteck wechseln.  In ihrer letzten Pflegefamilie wird sie  über Monate   von einem Onkel missbraucht. Als der Krieg endet,  sind Vater und Mutter tot, fast die  gesamte Familie de Jong ist ausgelöscht.

Lien braucht Jahre, um all das  zu realisieren. Sie hat nach Kriegsende nur einen Wunsch: Sie möchte wieder bei „Ma“ und „Pa“  in der  Bilderdijkstraat leben.  „Ma“  van Es  ist inzwischen mit einem weiteren Kind  schwanger. Die Familie ist in ein größeres Haus in der Frederikstraat umgezogen. Die Aufnahme des traumatisierten elternlosen Teenagers  muss ein gewaltiger Kraftakt für sie gewesen sein.  „Ich habe sie immer dafür bewundert, dass sie mich  wieder genommen haben“, sagt Lien de Jong.  „Aber ich weiß auch, dass sie  nicht auf mich gewartet haben.“

Ihren Kindern habe sie nur wenig über ihre Kindheit und Jugend erzählt.  „Das ist nichts, worüber man bei einer Tasse Kaffee plaudert.“ Bart van Es gehört zu den wenigen Menschen , mit  denen sie über dieses  Gefühl von Verlorenheit spricht, das sie noch  als dreifache Mutter quält. Mit  Anfang 40 unternimmt sie einen Selbstmordversuch. „Ich dachte, ich sollte nicht hier sein, nicht leben. Ich hatte das Gefühl, zu niemandem  dazuzugehören und keinen Platz in der Welt  zu haben.“

„Ma“  nimmt ihr den Suizidversuch sehr übel. „Sie hielt mich für sehr egoistisch.“  Das Verhältnis der beiden Frauen ist ohnehin angespannt, seit „Pa“ Henk die Adoptivtochter Jahre zuvor einmal sexuell belästigt hat. Sieben Jahre vor ihrem Tod im April 1988 bricht  „Ma“ den Kontakt zu Lien  endgültig ab.   In einem verletzend kurzen Brief bittet sie die Adoptivtochter, sie „eine Weile nicht mehr anzurufen und so weiter“. Lien de Jong hat ein zweites Mal ihre Familie verloren – ein tiefer  Schmerz, der  bis heute nachklingt.

2018 erscheint ihre Biografie „The Cut Out Girl“zuerst in Großbritannien. Eine späte Genugtuung, die die alten Wunden nicht heilen  kann. Lien de Jong ist dennoch stolz auf das mehrfach preisgekrönte Buch, das nun unter dem Titel „Das Mädchen mit dem Poesiealbum“ auch auf Deutsch vorliegt. „Ich dachte doch“, sagt sie, „dass ich nichts  zu  erzählen habe.“

Petra Pluwatsch

http://www.ksta.de

Bart van Es: „Das Mädchen mit dem Poesiealbum“, deutsch von Silvia Morawetz und Theresia Übelhör, DuMont, 322 Seiten, 22 Euro. E-Book: 17,99 Euro.

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