
Foto: Bücheratlas
Es steht zu vermuten, dass Ingrid Noll den alten Gerhard Gläser nicht mag. „Ich bringe in meinen Büchern in der Regel nur Menschen um, die ich nicht leiden kann“, sagte sie einmal in einem Interview. Und der betagte Gläser, ein geldgieriger, übelgelaunter Kauz mit schlechten Zähnen und ebensolchen Manieren, ist in der Tat kein Sympathieträger. Eines Abends liegt er tot in seinem Keller, zwar nicht ermordet, aber keinesfalls eines schönen Todes gestorben.
Gläser war der Nachbar von Großtante Emma, deren sanierungsbedürftiges Bauernhaus Studentin Trixi geerbt hat. Gemeinsam mit ihrem Freund Henry will sie die alte Bruchbude wieder flottmachen und eine WG gründen: neue Fenster, neuer Boden, neuer Durchlauferhitzer. Scheune und Dachboden werden entrümpelt, im verwilderten Garten sollen bald die ersten Kräuter wachsen. Herd und Waschmaschine stiften Trixis wohlhabende Eltern.
Schnell finden sich drei potenzielle Mitbewohner, die bereit sind, mit anzupacken: Trixis Busenfreundin Saskia, die introvertierte, wenig begüterte Martina mit dem Sozialtick und der gut aussehende Oliver, der in einer A-Capella-Band singt und allen Frauen den Kopf verdreht.
Schon nach wenigen Wochen Plackerei können die fünf Studierenden in ihr gemeinsames Domizil einziehen – und es beginnt der Kampf um Putzpläne und den abendlichen Kochdienst. Als wäre das Leben in einer WG nicht schon kompliziert genug, finden Trixi und Saskia eines Tages beim Aufräumen in einer zerbeulten Milchkanne einen Haufen Goldmünzen. Und damit geht der Ärger erst richtig los. Bald ist das Gold weg. Der alte Gläser, der es geklaut hat, behauptet, die Münzen gehörten ohnehin ihm und nicht den beiden Finderinnen. Und der Rest der WG wird gar nicht erst eingeweiht in das Durcheinander.
„Goldschatz“, der jüngste Krimi von Ingrid Noll, erzählt auf amüsante Weise vom Auseinanderbrechen einer Gemeinschaft, die an weit mehr Dingen scheitert als an ein paar gestohlenen Goldmünzen. Sozialneid, kleine und große Flunkereien und die alltäglichen kleinen Motzereien machen dem Quintett auf Großtante Emmas Hof das Leben schwer und läuten letztendlich das Auseinanderbrechen der Gruppe ein.
Hinzu kommt, dass über dem alten Hof ein düsteres Geheimnis lastet. Martina findet beim Umgraben des Gartens menschliche Knochen. Allein der Schädel des Skeletts fehlt. Wer lag hier begraben, und was bedeuten die geheimnisvollen Zeichen, die die jungen Leute in einer alten Kladde entdecken? Die Spur des unbekannten Toten führt schnell in die Vergangenheit von Großtante Emma.
Ingrid Noll ist damit ganz in ihrem Element. „Mich interessieren, wie Menschen miteinander umgehen“, sagt sie. „Was prägt ihr Verhalten? Welche Auswirkungen haben frühkindliche Kränkungen.“ Sie profitiere davon, dass ihr oft Wildfremde in der Bahn oder beim Einkaufen im Supermarkt ihre komplette Lebensgeschichte erzählten. „Ich erfahre auf diese Weise, wozu Menschen fähig sind, und was sie sich gegenseitig antun können.“ 15 Kriminalromane fußen auf der Neugierde der inzwischen 83-Jährigen. Ingrid Noll war bereits über 50 Jahre alt, als ihr erster Roman erschien: „Der Hahn ist tot“. Seitdem kommt alle zwei, drei Jahre ein neues Buch auf den Markt, kleine, feine Krimis, die zu lesen ein Genuss ist. „Goldschatz“ ist da keine Ausnahme: ein rundum gelungener Kriminalroman mit Tiefgang und einem guten Plot.
Ungewöhnlich mag allenfalls die Wahl der Protagonisten sein: junge Menschen, die die Enkel oder gar Urenkel der Autorin sein könnten. Glücklicherweise versucht Ingrid Noll gar nicht erst, den Ton der Jugend zu treffen, sondern erzählt ihre Geschichte so, wie sie bislang alle ihre Krimis erzählt hat. Gradlinig, in einer schlichten, von kurzen Sätzen und vielen Dialogen geprägten Sprache, die es nicht nötig hat, sich irgendwem anzubiedern.
Petra Pluwatsch
Ingrid Noll: „Goldschatz“, Diogenes, 368 Seiten, 24 Euro. E-Book: 20,99 Euro.