Goethes Lebensbegleitbuch in einer Hybrid-Ausgabe – ja, was ist das denn?

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Wo Goethe beziehungsweise Goethes Schreiber Zettel ins Manuskript einklebten, imitiert dies die aktuelle Edition mit viel Engagement. Fotos: Bücheratlas.

„Wer kann was Dummes, wer was Kluges denken“, heißt es im zweiten Teil der „Faust“-Tragödie, „das nicht die Vorwelt schon gedacht.“ Was Johann Wolfgang Goethe da dem Mephistopheles in den Mund legt, scheint nichts als wahr zu sein. Nichts Neues mehr unter der Sonne. Oder doch? Immerhin – an eine Hybrid-Ausgabe des „Faust“, wie sie jetzt erscheint, war selbst für den Großklassiker kein Denken. Und uns ist es heute zumindest noch eine Novität. So liegt nun also eine Ausgabe vor, die zum einen Teil im Netz und zum anderen in traditioneller Buchform erscheint.

Die digitale Edition versammelt unter dem Link faustedition.net alle einschlägigen Handschriften, von denen die meisten im Goethe-Schiller-Archiv in Weimar lagern und die übrigen weltweit verstreut sind. Da sind nicht nur alle Ausgaben und Vorabdrucke berücksichtigt. Auch finden sich Verse, die Goethe zwar verworfen hatte, aber gleichwohl aufbewahren ließ, weil er als selbstbewusster Dichterfürst davon ausging, dass keines seiner Worte unbeachtet bleiben würde. All das in einem gedruckten Buch zu veröffentlichen, wäre nicht nur eine finanzielle Extremität, sondern ließe sich auch nicht annähernd so bequem erschließen, wie dies  im Netz der Fall ist.

Doch auch das Buchpaket, das der Wallstein Verlag in Zusammenarbeit mit potenten Mitstreitern wie unter anderem der Klassik Stiftung Weimar und dem Freien Deutschen Hochstift geschnürt hat, ist eine Sehenswürdigkeit. Da sind zunächst zwei Folio-Bände in einer Kassette, von denen der eine ein sorgfältiges, auch alle eingeklebten Zetteln dokumentierendes Faksimile des von Goethe freigegebenen Textes bietet. Diese „Gesamthandschrift“ des zweiten Teils wird zum ersten Mal veröffentlicht.

Goethe hatte mit der Niederschrift  die beiden Schreiber Johann August Friedrich John und Johann Christian Schuchardt betraut. Vielfach wird er ihnen diktiert haben. Aber auch Goethe selbst griff zur Feder (oder zum Bleistift). Auf fast allen Seiten sind seine eigenhändigen Korrekturen zu finden. Denn mal hatte sich ein Schreiber verhört, mal fiel dem Dichter noch ein feinerer Vers ein. Und mal musste Goethe einen Fehler korrigieren. Die Herausgeber nennen ein schönes Beispiel: Euphorion, der erst im dritten Akt geboren wird, darf nicht, wie rechtzeitig bemerkt, schon im ersten Akt auftreten.

Von dieser – keineswegs leicht lesbaren – Handschrift liefert der zweite Folioband eine penible Transkription. Hinzu kommt als dritte Gabe noch ein Textband, der beide „Faust“-Teile vereinigt. Es handelt sich um eine historisch-kritische Ausgabe, die so „autornah“ wie nur möglich sein will. Während also die Netz-Präsentation ein Paradies für Goethe-Philologen ist, die am Entstehungsprozess des Werks interessiert sind, kann sich der Goethe- und Buchfreund an einer bibliophilen Kostbarkeit erfreuen.

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Das Faksimile vom zweiten Teil des „Faust“ – oder eben vom „zweyten Theil“ – und seine Transkription ins leichthin Lesbare.

Was es bedeutet, einen Band statt vieler Blätter in Händen zu halten, wusste Goethe sehr wohl. Als der „Faust II“ zwar weit fortgeschritten, aber noch nicht vollendet war, ließ er das vorhandene Material binden. Dazu gehörten auch einige frei gelassene Seiten. Der Dichter wollte den Druck spüren, die Leerstellen zu füllen. Johann Peter Eckermann zitiert den Meister aus dem Februar 1831: „Ich habe nun auch das ganze Manuscript des zweyten Teiles heute heften lassen, damit es mir als eine sinnliche Masse vor Augen sey.“ Man müsse dem Geistigen, meinte Goethe zu seinem Psycho-Trick in eigener Sache, „mit allerley Künsten zu Hilfe kommen“.

Zu diesem Zeitpunkt hatte er sich schon sehr lange mit dem „Faust“-Stoff befasst. In den 1770er Jahren wurde das Werk begonnen, wie im „Editorischen Bericht“ zu lesen ist. Um 1800 folgte die Entscheidung zur Zweiteilung der Tragödie. „Faust I“ erschien 1808 bei Cotta. Den zweiten Teil beendete Goethe erst am 22. Juli 1831, fast 60 Jahre nach dem Start des Gesamt-Projekts. Ins Tagebuch schreibt er: „Das Hauptgeschäft zu Stande gebracht.“ Veröffentlicht wurde der zweite Teil, seinem Wunsch gemäß, erst nach seinem Tod im Jahre 1833, ebenfalls bei Cotta.

Den „Faust“ vollendet zu haben, wird Goethe eine Genugtuung gewesen sein. Dass er sich zu einem Abschluss durchringen musste, hat er freilich auch bekannt. Das „geheftete Exemplar“ habe er versiegelt, „damit ich nicht etwa hie und da weiter auszuführen in Versuchung käme“. Die Tragödie ums rastlose Streben seines Helden war halt sein Lebensbegleiter. Acht Monate, nachdem das Werk versiegelt worden war, starb Goethe in Weimar.

Martin Oehlen

http://www.ksta.de

Johann Wolfgang Goethe: „Faust – Der Tragödie zweiter Teil“, Gesamthandschrift mit Transkription, hrsg. von Anne Bohnenkamp, Silke Henke und Fotis Jannidis, Wallstein Verlag, zwei Folio-Bände in Kassette, 796 Seiten, 199 Euro. –  Johann Wolfgang Goethe: „Faust. Eine Tragödie“, hrsg. von Anne Bohnenkamp, Silke Henke und Fotis Jannidis, Wallstein Verlag, 574 Seiten, 49 Euro. – Die komplette „Faustedition“ gibt es für 224 Euro.

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