
Vier Titel, vier Lese-Empfehlungen Foto: Bücheratlas
Kennt die deutschsprachige Literatur einen zweiten bedeutenden Roman, der den Horror des Holocausts als derart pechschwarzes Schelmenstück erzählt? Nein. Und die Frage, ob man das überhaupt so wie Edgar Hilsenrath in „Der Nazi & der Friseur“ machen dürfe, haben sich Ende der 70er Jahre sehr viele deutsche Verlage gestellt. Angeblich waren es über 60, darunter einige der ersten Adressen, die dem Autor eine Absage erteilt haben. Dabei lag der Roman schon in einer englischen Ausgabe vor, erschienen in den USA und Großbritannien und zudem mit Kritikerlob versehen. Aber im Land der Täter galt das erst einmal nicht als Argument.
Es war dann der kleine Kölner Verlag Helmut Braun, der sich des Manuskripts annahm und es im August 1977 veröffentlicht hat. Eine verlegerische Großtat. Was folgte, war der Aufstieg eines verstoßenen Textes zu einem Langzeit-Bestseller. Und das ist nur allzu verständlich.
Hilsenraths Roman ist ein faszinierend verstörender Ritt durch den Irrsinn des Antisemitismus. Man könnte ihn schreiend komisch nennen, ginge es um ein anderes Thema als eben den Massenmord an den Juden, um tumbe Täter und katastrophale moralische Abstürze. Aber schreiend und komisch – das ist diese Berg-und-Tal-Fahrt allemal. Heinrich Böll hat dem Werk seinen Segen gegeben: „Dieses heikle, waghalsige Unternehmen spricht für den Autor, seine Sprache, die wild wuchert und doch oft genug trifft, eine düstere und auch eine stille Poesie entfaltet.“
„Ich bin Max Schulz, unehelicher, wenn auch rein arischer Sohn der Minna Schulz“ – so fängt der Roman an. Und im Nachbarhaus wächst Itzig Finkelstein auf, nur zwei Minuten und 22 Sekunden später geboren als Max. Itzig ist Sohn des Friseurs Chaim Finkelstein, Besitzer des Salons „Der Herr von Welt“, gelegen an der Ecke Goethe- und Schillerstraße, Mitglied der Liga „Liebe Deinen Nächsten“ und Verfasser der Broschüre „Haarschnitt ohne Treppen“. So könnte es immer lustig weitergehen. Doch das Lachen bleibt einem ein ums andere Mal im Halse stecken.
Max Schulz wird zum SS-Mörder im KZ, der mit einem Lächeln in Gesicht seine Opfer erschießt, auch den Nachbarjungen Itzig. Doch als der Krieg zu Ende ist, wird es eng für ihn. Daher nimmt Schulz die Identität von Finkelstein an und eine Beschneidung bei einem ehemaligen SS-Arzt seines Vertrauens in Kauf, zudem die Entfernung der SS-Tätowierung. Nun schon einmal dem Judentum etwas näher gerückt, beschließt der Massenmörder, sich in Palästina niederzulassen. Dort feiert er die Gründung des Staates Israel und macht Karriere als Friseur und als Erfinder des Haarwuchsmittels „Samson V 2“.
Dieses Buch zu beginnen, heißt auch, es nicht mehr aus den Händen legen zu können. Doch Hilsenraths Gesamtwerk – um das sich der Dittrich Verlag verdient gemacht hat, dessen zehnbändige Werkausgabe von dtv übernommen worden ist – kennt viele weitere Attraktionen. Dazu zählen das zunächst auf Englisch erschienene Debüt „Nacht“ (1964) über den Überlebenskampf im Ghetto oder „Das Märchen vom letzten Gedanken“ (1989) über den Völkermord an den Armeniern. Dazu zählt zudem „Bronskys Geständnis“ (1980), das später unter dem Titel „Fuck America“ vertrieben wurde. Darin schreibt ein US-Konsul dem um Asyl bittenden polnischen Juden Nathan Bronsky 1939, dass die USA die Einwanderungswellen „im Interesse einer tonangebenden, rein weißen-angelsächsisch-protestantischen Wählerschaft aufs schärfste“ einzudämmen gedenke. Sollte Bronsky die Formulare zügig ausfüllen, wäre mit dem Visum im Jahre 1952 zu rechnen. Das sollte also länger dauern als das „Tausendjährige Reich“.
Edgar Hilsenrath wurde 1926 als Sohn jüdischer Eltern in Leipzig geboren. Er floh nach der Pogromnacht 1938 mit seiner Mutter und dem jüngeren Bruder zu den Großeltern nach Rumänien. Später wurde er in ein Ghetto in die Ukraine verschleppt. Nach dem Krieg wendete er sich erst nach Palästina, dann nach Frankreich und zog schließlich nach New York. 1975 kehrte er nach Deutschland zurück. Am 30. Dezember 2018 ist der Schriftsteller im Alter von 92 Jahren in einem Krankenhaus in Wittlich in der Pfalz.
Martin Oehlen