
Foto: Bücheratlas
Ein Mann in der Krise. Die Kinder, putzig zwar, aber anstrengend, nerven ohne Ende. Der Teilzeitjob bei einem Verlag entpuppt sich als extrem arbeitsaufwendig. Und dann ist da noch „Es“. „Es“, das Henning unversehens überkommt wie eine Lawine und ihm den Schweiß aus den Poren treibt. Der Atem wird flach, das Herz rast, der Puls klopft. Panikattacken, diagnostiziert der Arzt, nachdem er seinen Patienten durchgecheckt hat. Anstellerei, denkt irgendwann die Frau, mit der er zwei Kinder hat.
An einem Neujahrsmorgen macht Henning sich auf Lanzarote, wo die Familie einen Kurzurlaub verbringt, auf den Weg. Mit einem geliehenen Fahrrad, das zu klein für ihn ist, den Berg hoch, bis nichts mehr geht. Mit null Proviant und wenig Wasser. „Idiot“, möchte man dem Protagonisten in Juli Zehs jüngstem Roman zurufen. „Krieg dein Leben in den Griff, genieße, was du hast, und hör’ endlich auf zu jammern.“ Nein, Mitleid mit diesem intellektuellen Weichei will sich nicht einstellen. Ohnehin bleiben die handelnden Figuren in „Neujahr“ seltsam seelen- und konturenlos. Wie auch dieser ganze, nur knapp 200 Seiten umfassende Roman leider nicht allzu gelungen ist. Das mag zum einen an der Konstruktion der Geschichte liegen. Die Handlung zerfällt in zwei Teile und wird auf unterschiedlichen Zeitebenen erzählt.
Auf dem Berg angekommen, wird Henning von einer deutschen Künstlerin in ein Haus gebeten, das ihm seltsam bekannt vorkommt. Der Garten mit dem abgedeckten Schacht, der tief hineinführt in die Erde. Die Spinnen, die eine komplette Hauswand bedecken. Dann diese bemalten Steine, die ihm die Künstlerin zeigt und von denen auch seine Mutter in Deutschland einige besitzt.
Auf einen Schlag ist die Erinnerung wieder da: Als kleine Kinder sind seine Schwester Luna und er während eines Familienurlaubs von den Eltern in eben dieser Villa mehrere Tage alleingelassen worden. Ein Autounfall der Mutter war die Ursache für eine Erfahrung, die dem ungleichen Geschwisterpaar unbewusst bis heute auf der Seele drückt.
Dieser zweite Teil des Romans gehört zweifellos zu den stärksten Passagen, und man wünschte sich, die Autorin hätte ihm mehr Raum gewidmet. Zwei verstörte und vernachlässigte Kinder, die verzweifelt versuchen, den Anschein von Normalität zu wahren und in dem verlassenen Haus etwas zu essen und zu trinken zu finden. Das rührt das Herz, und zum ersten Mal hat man das Gefühl, dass die Protagonisten mehr sind als zwei Schatten auf dem Papier. Das kleine Mädchen schlägt sich blutig, mehrere Vorderzähne werden ihr bei einem Sturz aus dem Kiefer gerissen. Der fünfjährige Henning schwankt zwischen Besorgnis und Überforderung. Erfahrungen wie diese mögen die Panikattacken des erwachsenen Mannes und die Rastlosigkeit seiner Schwester erklären. Dennoch kommt auch dieser Teil des Romans sprachlich recht hölzern daher. Pseudokindliche Sätze wie „Pipi böse“ machen die Sache nicht besser.
Schon Juli Zehs Roman „Leere Herzen“, 2017 erschienen, überzeugte nicht, und auch dieser hier wirkt stellenweise wie eilig und unter Zeitdruck hingeschrieben. Schade ist das, denn spätestens seit dem Megaerfolg ihres Romans „Unterleuten“ (2016) gilt Juli Zeh als eine der führenden Autorinnen Deutschlands. A propos „Unterleuten“! Die Geschichte spielt in Brandenburg. Und dort, am Brandenburger Verfassungsgericht, soll die promovierte Juristin Juli Zeh Richterin werden. Aber das nur am Rande. Zurück zum Roman!
Vielleicht hätte sie sich für „Neujahr“ mehr Zeit nehmen sollen, für einen Stoff, der Potenzial hat. Überforderte Eltern, ein moderner Vater, dem das Leben zu viel wird. Vielleicht auch sind 200 Seiten einfach zu wenig für so viel Chaos und so viele Katastrophen. Und dennoch: Für einen der vorderen Plätze auf der Bestsellerliste reicht es.
Petra Pluwatsch
Juli Zeh: „Neujahr“, Luchterhand Literaturverlag, 192 Seiten, 20 Euro. E-Book: 15,99 Euro.