Mit dem Revolver auf die Kirmes

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Ein Mann steckt frühmorgens einen Revolver in seine Manteltasche und besteigt einen Zug. Sein  Ziel:   Great Minden, ein Nest irgendwo in der englischen Provinz. Sein Vorhaben: Er will den Mörder seines   Sohnes töten. „Great Minden“, denkt er während der Zugfahrt durch die unbekannte Landschaft. „Nur ein Name, nichts weiter! Ein Ort, an dem ich diesem Mann begegnen werde. Wie merkwürdig, ein kleines Städtchen kaum größer als ein Dorf, wo lauter Fremde wohnen, zu denen weder er noch ich eine Verbindung  haben.“

Am Ende dieses Tages werden drei  Männer und eine Frau tot  sein. Ein verwaistes Kind wird eine neue Heimat gefunden, eine dralle Friseurin ihren Liebsten verloren haben. Denn Great Minden, dieses Kaff  mit nur vier Straßen und einer Kirche,  ist mehr als „ein kleines Städtchen kaum größer als ein Dorf“. Great Minden ist – zumindest an diesem Freitag im Mai – eine Bühne für die großen Dramen der Welt.

Der Roman „Ein Tag im Sommer“ von J. L. Carr ist bereits  1963  in Großbritannien erschienen. Nun  ist dieses vielschichtige  und zutiefst lebenskluge Buch zum ersten Mal  ins Deutsche übersetzt worden – für den   DuMont  Buchverlag, der bereits zwei spätere  Werke des englischen Schriftstellers herausgebracht hat: „Ein Monat auf dem Land“ (1980, dt. 2016) und „Wie die Steeple Sinderby Wanderers den Pokal holten“ (1974, dt. 2017). In Carrs Heimat wurden gleich zwei seiner  insgesamt acht Romane  auf die Short Liste des renommierten Booker-Preises  gesetzt. Bekommen hat ihn allerdings weder „Ein Monat auf dem Land“ noch „The Battle of Pollocks Crossing“ aus dem Jahr 1985.

Joseph Lloyd Carr wird 1912  in North Yorkshire in England geboren. Der Vater ist  Stationsvorsteher bei der North Eastern Railway.   Carr wächst – so schreibt er im Vorwort von   „Ein  Monat auf dem Land“ –  in einer Zeit auf, „in der man noch mit Pferd und Pflug die Felder bestellte und eine Kerze mitnahm, wenn man ins Bett ging“. Er wird  Lehrer, obwohl er selber  angeblich ein schlechter und aufsässiger Schüler war,   und dient sich hoch zum Schulleiter in  Kettering, wo er 1994 stirbt.  Den Zweiten Weltkrieg erlebt Carr als Mitglied der Royal Air Force in Westafrika. Mit Mitte 50    quittiert  er seinen Brotjob in der Schule, nachdem er ein Jahr zuvor einen eigenen Verlag  gegründet hatte, und widmet sich  ganz dem Schreiben. „Ein Tag im Sommer“, vier Jahre vor seinem Ausstieg  aus dem Schuldienst  veröffentlicht, ist sein erster Roman.

Carr schöpft  in seinen Büchern   vielfach aus dem Schatz der eigenen Erfahrungen. Seine  Protagonisten stammen aus der Welt der Provinz, sind Pfarrer oder Lehrer, wie  er selber einer  war. Sie haben aus  zwei Weltkriegen Wunden an Leib und Seele  davongetragen, und nicht  jeder von ihnen hat sich von   dem Schrecklichen erholt, das ihm im Dienst des Vaterlands widerfahren ist.   „Das Verfassen eines Romans kann ein kaltblütiges  Unterfangen sein“, beschreibt er in  „Ein Monat auf dem Land“ das Ringen um eine Text.  „Man benutzt, was immer gerade im Gedächtnis herumliegt,  und biegt es so hin, dass es dem eigenen Zweck dient.“

Der Bankangestellte Peplow, die tragende  Figur in „Ein Tag im Sommer“,   war Flieger im Zweiten Weltkrieg, wenn auch  nicht wie der Autor in Westafrika, sondern  an der Südküste Englands.  Er hat erlebt, wie seine Kameraden  vor seinen Augen abgeschossen  und aus Menschen lebende Fackeln wurden.    Mehr als zehn Jahre nach dem Krieg hat Peplow nur einen Wunsch:   „Ein ruhiges bescheidenes  Leben“ mit Frau und Kind zu führen, vielleicht als  „Filialleiter  in einem  Provinznest  wie Minden, wo ich mich ruhig hätte zurücklehnen und meinen Sohn aufwachsen sehen können“. Das, fragt er seinen alten   Kameraden, den kriegsversehrten, zweifach beinamputierten   Herbert Ruskin,   „war doch nicht zu viel verlangt, oder?“ Doch das Schicksal hat anderes vor mit dem zurückhaltenden, stets  korrekt gekleideten Bankangestellten.

Ein Jahr  zuvor hat ein betrunkener Schausteller Peplows  zehnjährigen Sohn totgefahren, als der in der Nähe des Hauses spielte. Der junge Mann, als Säufer und Schläger bekannt,  wird vom Gericht freigesprochen, und die Welt der trauernden Eltern ist seitdem nicht mehr die, die sie vorher war. Also nimmt Peplow das Recht in seine eigenen Hände. An diesem Tag im Mai, während der  Kirmes  in Great Minden, will er Fred Dolan, den  er für den Mörder seines Sohnes hält, erschießen.

Der Tag    der Kirchweih soll nicht nur für Peplow   zu einem Wendepunkt im Leben werden.    Mrs.  Loatley beispielsweise, deren Mann seit einem Schlaganfall   stumm im Bett liegt,  hat  schon beim Aufstehen gespürt, „dass es ein merkwürdiger Tag“ werden könnte. „Zuerst dachte ich, es liegt an den Holunderblüten, ihrem süßliche Geruch, aber das war es nicht.“  Vielleicht  sei es ja die Hitze. „Andererseits habe ich schon andere heiße Tage erlebt. Nein, es ist etwas anderes.“

Die alte Dame hat recht. Unbarmherzig führt das Schicksal Regie in dieser menschlichen Komödie  und zeigt den Protagonisten und Protagonistinnen, dass die Zeit der Lügen und Selbsttäuschungen vorbei ist. Alte Geheimnisse werden aufgedeckt, Weichen für ein neues, ein anderes und nicht unbedingt besseres Leben gestellt.

Da ist Miss Prosser, die strenge Schulleiterin, die mit ihrer älteren Schwester zusammenlebt und  unter  der Last eines vergeudeten Lebens leidet.  Dem Vater zuliebe ist sie in Great Minden  geblieben, ein Opfer ohne Wert, denn der alte Prosser  war, wie sie  an diesem Tag erkennen muss, beileibe nicht  der ehrenwerte Bürger, der er zu sein vorgab:    „Übelkeit stieg in ihr hoch…“

Der Pfarrer muss erkennen, dass ein Neuanfang mit seiner lebenslustigen Frau nicht möglich ist. Auch in der Gemeinde bekommt er keinen Fuß auf den Boden  – und so greift er zu drastischen Maßnahmen.

Carr ist ein guter Kenner des kleinstädtischen Miteinanders und ein aufmerksamer  Beobachter. Und: Er ist ein Mann mit Humor,  was den Dramen, die sich  in Great Minden abspielen, ihre Schärfe nimmt.  Das Buch ist in vier Kapitel  unterteilt: Morgen, Nachmittag, Abend, Nacht. Die Spannung steigert sich von Akt  zu Akt, um in einem grandiosen nächtlichen Finale ihren Höhepunkt zu erreichen.

Es gibt nur wenige Gewinner in diesem berührenden  Roman. Ausgerechnet    Peplow, der auszog, um an diesem Tag  einen Menschen zu töten, gehört zu ihnen.  „Morgen ist alles anders, dachte  Peplow. Ich werde wieder ich selbst sein, der, der ich immer war. Der ewige Bankangestellte, absolut zuverlässig, vertrauenswürdig.“ Peplow irrt sich. Morgen wird er ein anderer sein.  Ein Mann, der zurück ins Leben gefunden hat.

Petra Pluwatsch

Joseph Lloyd Carr: „Ein Tag im Sommer“, dt. von Monika Köpfer, DuMont, 304 Seiten, 22 Euro. E-Book: 17,99 Euro.

http://www.ksta.de

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