Jürgen Becker zwischen Coolness und Anarchie: „Gipfeltreffen der deutschsprachigen Literatur“ in Köln erinnerte an den Schriftsteller

Gruppenbild mit Schreibtisch (auf der Leinwand): Moderator Frieder von Ammon am Pult und seine Gäste auf den Stühlen der Comedia. Foto: Bücheratlas / M. Oe.

Boris Becker möchte die Lage nicht beschönigen. „Bei aller Liebe“ zu seinem vor einem Jahr verstorbenen Vater, dem großen deutschen Schriftsteller Jürgen Becker, packe ihn zuweilen „Angst und Verzweiflung, manchmal auch Wut“, wenn er auf den Nachlass blicke. Denn alles Schriftliche liegt nicht wohlgeordnet in Schubladen und Aktenordnern bereit. Vielmehr hat Jürgen Becker rund um seinen Schreibtisch eine gebirgige Landschaft aus Büchern und Manuskripten, Notizen und Quittungen hinterlassen. Dies alles zu sichten und zu ordnen, ist zweifellos eine Herkulesaufgabe.

Ein Traum von einem Schreibtisch

Davon konnte sich jeder überzeugen, der dem famosen Literaturhaus-Abend zur Erinnerung an Jürgen Becker beiwohnte. Denn während auf der Bühne der Comedia in Köln gesprochen und gelesen wurde, lief im Hintergrund eine Endlosschleife aus zehn schwarz-weißen Aufnahmen, die der Fotokünstler Boris Becker vom Arbeitszimmer seines Vaters im Odenthaler Stadtteil Heide gemacht hat. Was soll man sagen: Gewiss ist die Immobilie eine Herausforderung für die Nachfahren, aber ansonsten ist es ein herrliches Schriftsteller-Refugium.

Jürgen Becker wurde 1932 in Köln geboren, lebte während des Zweiten Weltkriegs in Erfurt, kehrte zurück ins rechtsrheinische Köln, arbeitete für Verlage, war fast 20 Jahre lang Hörspiel-Leiter beim Deutschlandfunk, erhielt gleich zweimal den Literaturpreis der Stadt Köln und wurde überdies mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet. Sein Tod vor einem Jahr war nun Anlass zu einer so dichten wie prominent besetzten Erinnerungsfeier, die von der Kunststiftung NRW und der Stadt Köln unterstützt wurde.

Lieber in die Comedia als ins Schloss Bellevue

Moderator Frieder von Ammon sprach von einem „Gipfeltreffen der deutschsprachigen Literatur“ – übrigens nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Publikum. Gerade auch die jüngere Generation der Schreibenden lasse sich von diesem Werk inspirieren. Die Berliner Lyrikerin Nadja Küchenmeister hatte sogar eine Einladung des Bundespräsidenten ins Schloss Bellevue ausgeschlagen, um in der Kölner Südstadt mit warmen Worten an Jürgen Becker zu erinnern.

Auch Nico Bleutge wollte unbedingt dabei sein. Der Lyriker kam als Erster zu Wort, weil er gleich nach seinem Auftritt einen Zug erreichen musste, um am folgenden Morgen in einem Berliner Hörfunk-Studio auftreten zu können. Klar, dass der Radiomann Jürgen Becker dafür nichts als Verständnis gehabt hätte. Bei keinem Autor, sagte Nico Bleutge, sei „der historische Hallraum so präsent“ wie bei Jürgen Becker, dem Meister der „Gedächtnislandschaften“. Auch habe er das Langgedicht, das er in der US-Lyrik kennengelernt habe, für die deutschsprachige Literatur „salonfähig“ gemacht. Von ihm habe er viel über Scharniere und Schnitttechnik in der Literatur gelernt.

Die Kunst der Klappentexte

Jeder der Gäste – bis auf einen – las einen Text von Jürgen Becker. Die vielleicht originellste Wahl traf die Lyrikerin Marion Poschmann. Der von ihr 2022 herausgegebene Band mit Jürgen-Becker-Gedichten weist nämlich eine Spezialität auf, die nun zur Sprache kam: Klappentexte, die der Autor für seine Bücher selbst geschrieben hatte. Dabei handele es sich, so Marion Poschmann, um eine unterschätzte literarische Gattung, die von vielen Autorinnen und Autoren gepflegt werde.

Bei Jürgen Becker habe es sich jeweils um eine Kurzfassung seiner Poetik gehandelt. Tatsächlich ist dann im Klappentext für das „Journal der Wiederholungen“ sehr konzentriert von der Gleichzeitigkeit, von der Erinnerungsarbeit sowie vom Kontinuum der Stimmen und Bilder die Rede.

Prosa ohne Plot

Was Marcel Beyer neben der anziehenden Persönlichkeit beeindruckte, war eine Prosa, die nicht vom Plot ausging. Ihn begeistert das plastische, medienbewusste, experimentelle Schreiben. Auch gelangte Marcel Beyer nach der deutschen Einheit zu Orten im Osten, die ihm schon aus Jürgen Beckers Werk bekannt waren: „Das war wie ein umgekehrter Film.“

Die Persönlichkeit des Autors lobte jeder und jede. Nähe, Ruhe, Höflichkeit, Coolness, Freundlichkeit, Augenhöhe – das waren Begriffe, die mehrfach fielen. Marcel Beyer fügte noch einen Aspekt hinzu, der nicht so bekannt ist: „Ja, er war wahnsinnig cool, aber er hatte auch einen ungeheuren Schalk.“ Zudem seien ihm anarchistische Züge eigen gewesen. Davon war dann in dem Text „Piratensender Jürgen Becker“ die Rede, den Marcel Beyer noch zu Lebzeiten des Autors verfasst hatte.

„Alles nur ausgedacht“

Was es mit der gelegentlichen „Anarchie“ auf sich hatte, deuteten die Hörspiel-Experten Sabine Küchler und Ekkehard Skoruppa an. Die eine hat das letzte Hörspiel des Autors („Erzählen wie es weitergeht“), der andere das vorletzte („Damals im Garten“) für den Funk realisiert. Küchler erinnerte sich daran, dass Jürgen Becker bei den Programmkonferenzen im Deutschlandfunk die tollsten Stücke angekündigt habe. Jedoch: „Es stimmte nie – er hatte sich das alles nur ausgedacht.“

Ekkehard Skoruppa nahm diesen Ball auf. Er ließ das Publikum wissen, dass Jürgen Becker in den 1960er Jahren als Lektor im Rowohlt-Verlag Klappentexte zu Büchern geschrieben habe, die er gar nicht gelesen hatte.

Neues Becker-Buch erscheint 2027

Zum Abschluss der Erinnerungsfeier kam dann die Familie zu Wort. Lotte Becker – sie fährt mittlerweile den „Geländewagen“, der mehrfach durchs literarische Werk rollt – und Tristan Becker lasen so emotional wie intensiv Passagen des Romans „Aus der Geschichte der Trennungen“. Nach den Enkelkindern, die als Schauspieler auf der Bühne und im Film zu sehen sind, wartete Boris Becker noch mit einer frohen Botschaft auf: ein Buch, das sich aus dem Nachlass speist, soll im übernächsten Jahr bei Suhrkamp erscheinen.

Jürgen Becker habe Texte geschrieben, „die wir weiterhin brauchen“, hatte Literaturhaus-Chefin Bettina Fischer zur Begrüßung gesagt. Nun gibt es sogar die Aussicht auf neue Dichtung. Noch ist nicht bekannt, wie der Band heißen soll. So belassen wir es bei einem Arbeitstitel: Fortsetzung folgt.

Martin Oehlen

Auf diesem Blog

haben wir zahlreiche Beiträge über Jürgen Becker veröffentlicht, die sich leicht über die Suchmaske und das Stichwort „Jürgen Becker“ finden lassen. Zuletzt vor einem Jahr der Nachruf (HIER) und davor den Gedichtband „Nachspielzeit“ (HIER).

Den von Marion Poschmann herausgegeben Großband mit Jürgen Beckers „Gesammelten Gedichten“ haben wir HIER vorgestellt.

Marcel Beyer haben wir zuletzt gewürdigt anlässlich des von ihm herausgegebenen Bandes mit dem Spätwerk von Friederike Mayröcker (HIER).

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