„Fast täglich hört eine Epoche auf“: Jürgen Becker mit neuen Journalgedichten und einem Wälzer mit den „Gesammelten Gedichten“ aus 50 Jahren

Jürgen Becker in seiner Wohnung in Köln-Brück Foto: Bücheratlas

Bei Jürgen Becker geht es um alles. Um das Große und das Kleine, das Gegenwärtige und das Vergangene. Schon im ersten Gedicht des ersten Lyrikbandes „Schnee“, dem 1966 geschriebenen und 14 Seiten füllenden „Fragment aus Rom“, gibt es einen Hinweis auf den Gegenstand der Betrachtung: „Jahre, Fortsetzungen, Flüge, Brüche, Beispiele“. Was damals noch wie eine beiläufige Erwähnung wirken mochte, hat sich in den folgenden Werken ein ums andere Mal als literarischer Urgrund des vielfach ausgezeichneten Schriftstellers bestätigt.

„Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“

Die Lyrikerin Marion Poschmann kommt zu dem Schluss, Jürgen Becker verfolge mit eindrucksvoller Konsequenz „die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“. In der genauen Beobachtung alltäglicher Begebenheiten und in den „Bewegungen der Erinnerung“ entstehe wie nebenbei eine Chronik der Bundesrepublik – von der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges über die deutsche Wiedervereinigung bis hin zum „Smartphonezeitalter“.

Jetzt gibt es gleich zwei Neuerscheinungen, die rechtzeitig zu Jürgen Beckers 90. Geburtstag am 10. Juli vorliegen. Da ist zum einen der 1120-Seiten-Wälzer „Gesammelte Gedichte 1971-2022“, den Marion Poschmann herausgegeben und mit einem ausführlichen Nachwort versehen hat. Außerdem präsentiert der Band die neuen „Journalgedichte“, die – siehe da – zeitgleich in einer separaten Ausgabe vorgelegt werden: „Die Rückkehr der Gewohnheiten“. Beide Bücher erscheinen im Suhrkamp Verlag, in dem der Büchnerpreisträger vor 60 Jahren seinen ersten Text veröffentlicht hat (in der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Anthologie „Vorzeichen“).

„Fortsetzend das Selbstgespräch“

Die neuen „Journalgedichte“ sind selbstredend eine „Fortschreibung“ des Werks. Schon der Spiegelstrich am Anfang deutet an, dass es weitergeht, wo man abgebrochen hatte: „– fortsetzend das Selbstgespräch, und wie es hervorkommt aus dem Schatten des früher Gesagten, an der langen Leine von etwas, das man Kontinuum nennt.“ Und ein Spiegelstrich am Ende des Bandes deutet an, dass noch nicht alles gesagt ist. Vielleicht, so sagt es Jürgen Becker, arbeite man als Autor immer nur an dem einen Buch – auch wenn dabei im Laufe der Zeit mehrere Bücher entstehen sollten.

Glücklich jene Leserinnen und Leser, die Zugriff haben auf jede neue Lieferung des lebenslangen Journals. Es enthält auch diesmal frische Beobachtungen und aufblühende Erinnerungen, dazwischen Wiederholungen und Variationen, die wie Trittsteine im Wasser wirken. Oft genügt schon eine Vokabel, um sich auf vertrautem Gelände zu wähnen: Schnee und Pappeln, Risse in der Biographie und Preußen Dellbrück, Äpfel und Birnen, der Strand in Ostende und die Tankstelle am Dorfrand. Solche Motive aus dem reichen Repertoire werden bekräftigt, überprüft, in einen neuen Kontext gestellt.

Erinnerungen im Wandel

Im Gespräch erläutert Jürgen Becker: „Das Gedächtnis ist ein Depot und jeder Moment, auch den wir jetzt erleben, geht ins Gedächtnis ein. Aber wo ist es da, wo bleibt es? Das ist dann die Arbeit der Erinnerung.“ Doch der Erinnerung ist nicht so leicht zu trauen. Da gibt es Überlappungen, Verdichtungen, Erfindungen. Und die Gegenwart mischt sich ein mit neuen Erfahrungen. In den „Gewohnheiten“ steht: „Eine Erinnerung wiederholt sich, aber sie scheint sich / verändert zu haben, denn jetzt erzählt sie alles ganz anders.“

Lesende, die bei der Lektüre dazu neigen, sich bemerkenswerte Stellen zu markieren, werden in diesem neuen Lyrikband auf jeder Seite ihre Spuren hinterlassen. „Die Wolke, die du jetzt siehst, erzählt ihre Geschichte / nur einmal.“ haben wir uns angestrichen. Nicht nur, weil es wahr ist und schön klingt. Auch weil der Satz zu sagen scheint: Nichts ist ohne Bedeutung. Und so hat vieles die Chance, im Vers fixiert zu werden.

„Wochenlange Leere in der Einflugschneise“

Der poetische Realismus des Jürgen Becker besticht durch den immer ruhigen, oft lakonisch-melancholischen, auch mal ironischen Ton. Nichts Gereimtes kommt uns in diesen Gedichten unter, die auf Prosasätzen aufbauen. Diese sind assoziativ vernetzt und quer durch die Zeiten verwoben. Die Spuren des Alltags findet das lyrische Ich – das recht selten Ich sagt – beim Blick aus dem Fenster, beim Durchstöbern des Hauses und in den Medien („regelmäßig Zeitungskiosk“).

Allenthalben Zeitenwenden: „fast täglich hört eine Epoche auf.“ Im Privaten wie im Globalen. Von Alter und Vergänglichkeit ist die Rede. Und die Corona-Pandemie zieht eine kräftige Spur durch die Gedichte. Dabei fällt nicht nur die „wochenlange Leere in der Einflugschneise“ auf. Das Heute weist zurück auf das Gestern. Jürgen Becker erinnert sich im Gespräch: „Als kurioserweise plötzlich kein Toilettenpapier mehr da war, dachte ich: Moment, das kennen wir doch, dass es etwas nicht gibt. Dass man nun Schlange stand beim Bäcker oder vor dem Supermarkt, hat mir sofort die Kriegs- und Nachkriegserfahrung vergegenwärtigt.“

„Die Feindseligkeiten gehen weiter“

Jürgen Becker, 1932 in Köln-Dellbrück in der Strundener Straße geboren und auch heute im Rechtsrheinischen zuhause, hat den Zweiten Weltkrieg als Kind in Thüringen erlebt. Es waren prägende Jahre. In Erfurt hörte er zum ersten Mal nicht im Radio, wie die Front verlief, sondern vernahm „live“, wie am Horizont das Geschützfeuer immer näherkommt. Er sagt: „Jedes Gewitter, wenn es in der Ferne grollt, erinnert mich daran.“

Kriegsmomente sind im gesamten Werk präsent. Auch die neuen Journalgedichte werden durchzogen vom Geruch der Ruinen, von Not und Flucht und dem Schweigen der Väter. Diese Verse, die vor Russlands Einmarsch in die Ukraine geschrieben worden sind, liest man mit alarmiertem Bewusstsein. Manches wirkt wie für unsere kriegerisch-verspannte Gegenwart formuliert: „Man hört nicht auf zu lernen, und wir kennen / die Regeln. Aber es hilft nichts, / die Feindseligkeiten gehen weiter.“

„Das hatte ich nicht erwartet“

Aktuell sitze er an keinem neuen Projekt, sagt Jürgen Becker. Er sei allenfalls mit „so kleinen Sachen“ beschäftigt. Doch wenn er zum Bleistift greife, einem immer seltener werdenden „Architektenstift“, und etwas auf einem Zettel festhalte, dann merke er, wie der Krieg in der Ukraine mitschreibe.

Er sei „fassungslos“ gewesen, als Russland am 24. Februar angegriffen habe: „Das hatte ich nicht erwartet.“ Es sei ein Krieg, der in einen Dritten Weltkrieg münden könnte. „Deshalb verstehe ich unseren Kanzler sehr gut, dass seine Regierung mit Waffenlieferungen zögert.“ Dass Deutschland der Ukraine helfe, sei selbstverständlich. „Aber den Luftraum zu schließen und Raketensysteme zu liefern, mit denen die Ukraine russisches Gebiet bombardieren könnte, birgt hohe Risiken.“

Korrespondenzen mit anderen Künsten

Wenn nun die „Gesammelten Gedichte“ an die Öffentlichkeit gelangen, freut es den Autor, dass darin auch Malereien und Collagen seiner im September verstorbenen Ehefrau Rango Bohne sowie Fotografien seines Sohnes Boris Becker zu finden sind. „Das ist mir sehr wichtig“, sagt er. „Ich habe ja immer in Korrespondenz mit den anderen Künsten gelebt und gearbeitet. Dabei hat oft auch das Nächstliegende mitgewirkt – die Collagen von Rango, die ich als erster sah und die mich umgeben haben, und die fotografische Arbeit von meinem Sohn Boris.“ Gelegentlich sind daraus auch gemeinsame Bücher, eben „Korrespondenzen“ entstanden.

Die bildende Kunst stand bei Jürgen Becker am Anfang. Erst danach kam die Literatur. Ehe er sich erstmals auf Bücher einließ, hatte ihn schon die Malerei gepackt. Als kleiner Junge saß er oft im Atelier seines Onkels Erich Schuchardt, was er auch in dem Band „Der fehlende Rest“ beschrieben hat. Er sah, wie die Bilder entstehen, und er nahm intensiv auf, wie die Farben riechen. „Ich wollte auch malen können“, erinnert er sich jetzt, „aber bei mir war kein Talent.“ Die Faszination der Dichtung entdeckte er auf dem Gymnasium, dabei entscheidend gefördert von seinem Deutschlehrer, der ebenfalls im Gesamtwerk auftaucht: „Fritz Hünemeyer hat mich auf den Weg gebracht. Da fing ich auch an, Gedichte zu schreiben und habe sie ihm gezeigt.“

„Nichts mehr, wie es war“

Was daraus geworden ist, kann nun aufs Schönste besichtigt werden. Es ist eine Chronik des Verschwindens und eine Bestandsaufnahme unserer Zeit: „Wenig hat sich geändert, aber nichts mehr, wie es war.“ Käme jetzt die Sintflut, wäre eine der vornehmsten Aufgaben, Jürgen Beckers Bücher zu retten. Sie sind ein literarisches Archiv der Jahre, die wir kennen.

Martin Oehlen

Auf diesem Blog

findet sich ein Beitrag über die öffentliche Präsentation der beiden neuen Bände – und zwar HIER.  

Veranstaltung

Auftritt zum Auftakt des neuen Festivals „Literatur am Dom“ in Altenberg, 23. Juni, 18 Uhr. Moderation: Joachim Sartorius.  

Jürgen Becker: „Gesammelte Gedichte 1971-2022“, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Marion Poschmann, Suhrkamp, 1120 Seiten, 78 Euro. E-Book: 69,99 Euro.

Jürgen Becker: „Die Rückkehr der Gewohnheiten – Journalgedichte“, Suhrkamp, 78 Seiten, 20 Euro. E-Book: 16,99 Euro.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s