
Das „Schauspiel des Lebens“ hat Dieter Wellershoff immer wieder fasziniert. So hat er es einmal gesagt, und so hat er es uns Buch für Buch vor Augen geführt. Nun steht der Kölner Schriftsteller, der 2018 gestorben ist, selbst im Zentrum der Aufmerksamkeit. Sein 100. Geburtstag am 3. November ist der willkommene Anlass, um an ihn zu erinnern. Und das gleich an mehreren Schauplätzen.
„Das Ich und seine Augenblicke“ in der Galerie Smend
Vorneweg und bereits jetzt lädt die Kölner Galerie Smend zum Besuch ein. Sie präsentiert in der Mainzer Straße in der Südstadt, in der Dieter Wellershoff gewohnt hat, eine Fotoausstellung in zwei Räumen und nur für kurze Zeit. Kuratoren der so intimen wie attraktiven Schau sind Irene Wellershoff, eine Tochter des Schriftstellers, und der Schwiegersohn Bodo Witzke. Ihr gemeinsames Bestreben ist es, anhand von Texten und Bildern „Einblicke in sein Denken und in seine private Welt“ zu geben. Zu sehen sind Fundstücke aus alten Familienalben und fotografische Zeugnisse aus jüngerer Zeit, die Bodo Witzke im ehemaligen Arbeitszimmer von Dieter Wellershoff erstellt hat.
„Das Ich und seine Augenblicke“ ist der treffende Titel der Ausstellung. Er ist einem Gedicht entlehnt, das von der Vergänglichkeit handelt und mit den Worten endet: „Du konntest die Zeit nicht festhalten, / ebenso wenig wie den Wind.“ Bodo Witzke erinnerte sich in seiner Eröffnungsrede daran, dem Schwiegervater einmal gesagt zu haben, dass es sich hierbei um ein melancholisches Gedicht-Finale handele. Doch Dieter Wellershoff habe widersprochen: „Ne, nicht melancholisch, sondern realistisch.“ Dies war sein Blick aufs Leben: realistisch – und immer neugierig. Als im hohen Alter die Kräfte schwanden, habe er gesagt: „Jetzt schau ich mir das auch noch an.“


Gabriele Ewenz gibt „Ansichten von Köln“ heraus
Die Galerie Smend liegt nur ein paar Schritte entfernt vom „Eierplätzchen“, das die Mainzer Straße unterteilt. Die Bemühungen der Kinder des Verstorbenen, diesen vom Vater unzählige Mal überquerten Platz zum Dieter-Wellershoff-Platz umzubenennen, kommen aktuell nicht recht voran. Andernorts geht es geschmeidiger zu, wie Irene Wellershoff den Besuchern der Vernissage mitteilte: In Neuß, der Geburtsstadt des Autors, gibt es mittlerweile eine Dieter-Wellershoff-Straße.
Zum Jubiläum wird auch druckfrische Literatur geboten. Da fangen wir doch am besten mit Dieter Wellershoff an. Gabriele Ewenz, die Leiterin des Heinrich-Böll-Archivs und des Literatur-in-Köln-Archivs der Stadtbibliothek, gibt im Lilienfeld Verlag eine neue Zusammenstellung der Köln-Texte des Schriftstellers aus den Jahren 1976 bis 2007 heraus: „Die Stadt ist wie ein ungeheures Buch – Ansichten von Köln“.
„Eine alltägliche Liebesgeschichte“
Der Titel zitiert dabei aus dem nahezu legendären Band „Pan und die Engel“, in dem Dieter Wellershoff im Jahr 1990 einige Betrachtungen über Köln versammelt hat. Zur Einführung schrieb er damals: „Die Stadt ist wie ein ungeheures Buch vom Informationsgehalt und Umfang einer universalen Bibliothek. Kein Mensch kann es je zu Ende lesen.“ Auch kommt er auf seine Beziehung zu Köln zu sprechen: „Ich fände es nicht falsch, das als eine alltägliche Liebesgeschichte zu verstehen, eine, die inzwischen auf reiche Gewohnheit gründet, aber immer noch andauert.“
Tatsächlich hat er sich vielfach zur Stadt geäußert. Fast alle Texte aus „Pan und die Engel“ haben Aufnahme in der neuen Anthologie gefunden. Zudem werden fünf zusätzliche Beiträge angeboten, darunter ein Gespräch mit Olaf Petersenn über „Köln – Die wiedererstandene Stadt“. Gabriele Ewenz schreibt im Nachwort: „Wellershoff flaniert mit einer umfassend gebildeten Wahrnehmungsgabe durch die Stadt, beobachtet genau, versinkt in seine Kindheitserinnerungen und taucht in der Realität wieder auf.“ Auf diese Weise sei ein facettenreiches und geistreiches Köln-Porträt entstanden – eine Einladung, „neue Stadträume zu entdecken oder scheinbar Vertrautes mit einem anderen neugierigen Blick zu betrachten.“ Die Herausgeberin stellt ihren Band am 3. Dezember im Interim der Zentralbibliothek vor.
Peter Hennings Erinnerungen „Vom Leben berührt“
Auch Kiepenheuer & Witsch wartet mit einer Geburtstagsgabe auf. Der Verlag, in dem Dieter Wellershoff als Lektor tätig war und in dem sein Gesamtwerk erscheint, veröffentlicht Erinnerungen. Allerdings nicht solche der ehemaligen Verleger Reinhold Neven Du Mont oder Helge Malchow, von denen der Letztere 2018 in seiner Trauerrede sagte, Dieter Wellershoff sei „die geheime geistige Wirbelsäule“ gewesen, die das ganze Verlagsgebilde über viele Jahrzehnte getragen und zusammengehalten habe. Nein, es werden die Erinnerungen von Peter Henning vorgelegt. Der Kölner Schriftsteller und Journalist hatte Dieter Wellershoff fünf Jahre vor dessen Tod kennengelernt, nachdem er ihn um einen werbenden Satz für das Cover seines neuen Romans gebeten hatte.
Peter Henning schreibt in „Vom Leben berührt“, sie beide seien „im Nu Freunde geworden“. Was ihn an Dieter Wellershoff von Anfang an fasziniert habe, sei die „im hohen Alter wie wiedergewonnene, kindliche Fähigkeit zum vorurteilslosen Schauen und Staunen“ gewesen. In dem Band werden selbstverständlich Werke und Themen des Jubilars angesprochen; zudem finden sich darin einige Anekdoten.

„Bodo, es geht … nichts!“
Eine davon zielt auf die Computer-Tastatur des Dieter Wellershoff. Da kommt noch einmal Bodo Witzke ins Spiel. Er bestätigt uns bei der Vernissage in der Galerie Smend, dass ihn sein Schwiegervater einmal gebeten habe, jene Tasten zu entfernen, die ihn beim Schreiben störten. Das Ergebnis ist auf einer Fotografie fixiert.
Überhaupt war Bodo Witzke des Öfteren gefordert, wenn die Technik nicht so wollte wie vom Schriftsteller gewünscht. Dann gab es die telefonische Durchsage: „Bodo, es geht … nichts!“ Für ihn habe bei diesem „nichts“, so wie Dieter Wellershoff es aussprach, die Leere des Universums zwischen den Welten durchgeklungen. „Das wurde dann – in dieser Intonation – in der Familie zu einer Art geflügeltem Wort.“
Markus Schwerings Basisbuch „Krise und Utopie“
Das literarische Hauptwerk der Wellershoff-Saison liefert Markus Schwering. Seine grundlegende Untersuchung „Krise und Utopie“, die im Böhlau Verlag erscheint, bietet die mit Abstand intensivste Auseinandersetzung mit der Kunst des Autors. Es handelt sich um eine wissenschaftlich fundierte, also akribisch abwägende Monographie, die das Werk gleichsam Seite für Seite ergründet. Zudem öffnet der Verfasser dort, wo es ihm angemessen erscheint, den Blick auf die Biografie. Kurzum: Was hier vorliegt, ist ein Basisbuch der Wellershoff-Forschung.
Markus Schwering wird „Krise und Utopie“ am 3. November im Literaturhaus Köln vorstellen (an dessen Gründung Dieter Wellershoff beteiligt war). Bei dieser zentralen Feierstunde werden auch die ehemaligen KiWi-Verleger Reinhold Neven Du Mont und Helge Malchow Auskunft geben. Außerdem treten Ulrike Anna Bleier, Thomas Empl und Traudl Bünger auf, die für ihre schriftstellerische Arbeit mit dem Dieter-Wellershoff-Stipendium der Stadt Köln bedacht worden sind.
„Warum Wellershoff lesen?“
Doch wie aktuell ist das Werk des Dieter Wellershoff? Eine Frage ist das, die womöglich im Rahmen der Veranstaltung aufkommen wird. Markus Schwering hat sie sich bereits im Schlusskapitel seiner Untersuchung gestellt: „Warum Wellershoff lesen?“ Einige Hauptgründe führt er an. „Obwohl sich die technisch-wissenschaftliche Zivilisation rasant, in einem exponentiellen Wachstum entwickelt, dürften Leser kaum Probleme haben, die Welt von Wellershoffs Figuren im Wesentlichen immer noch als ihre eigene zu empfinden.“ Die psychischen Antriebe der Akteure, darunter die Gier nach Erfolg und materiellem Gewinn, dürften sich, meint der Verfasser, kaum verändert haben.
Zudem widme sich Dieter Wellershoff mit Nachdruck der Frage, wie „heute“ überhaupt zu leben sei – „in einer Zeit der metaphysischen Obdachlosigkeit, der Schwächung von Institutionen, überindividuellen Sinnangeboten und moralischen Verbindlichkeiten.“ Eine konkrete Handlungsanweisung, wie denn nun zu leben sei, gebe es selbstverständlich nicht. Stattdessen werde die Leserschaft aufgefordert, die eigene Urteilsbereitschaft zu aktivieren.
Wenn nicht jetzt, wann dann?
Schließlich wird die „elegante Kraft der künstlerischen Gestaltung“ als Lektüre-Verlockung angeführt. Markus Schwering schreibt: „Wenn Wellershoff das psychologische Seziermesser ansetzt, dann feiert seine Sprache Feste einer Eloquenz und introspektiven Genauigkeit, von der man vorher vielleicht nicht glauben mochte, dass sie überhaupt möglich seien.“
Das sind lauter gute Gründe, Dieter Wellershoff zu lesen. „Der Liebeswunsch“, der Erfolgsroman der späten Jahre, ist sicher keine schlechte Wahl. Auch „Der Ernstfall“ ist eine Option – nach Ansicht mancher handelt es sich sogar um ein Zentralwerk, da es die alles prägende Kriegserfahrung behandelt. Aus diesem Buch wird Bert Hahn am 6. November – bei freiem Eintritt – im Historischen Archiv der Stadt Köln vortragen. Gleichwohl gibt es noch viele weitere Optionen, sich lesend auf das Werk einzulassen. Wenn nicht jetzt, wann dann?
Martin Oehlen
Auf diesem Blog
haben wir uns schon einige Male mit Dieter Wellershoff befasst. Unter anderem ging es HIER um den von Werner Jung herausgegebenen Band „Dieter Wellershoff – Verborgene Texte des Lebens“ (Aisthesis Verlag).
Markus Schwerings „Kölner Literaturgeschichte“ (Böhlau) haben wir HIER vorgestellt.
Ausstellung
„Das Ich und seine Augenblicke“ in der Galerie Smend, Mainzer Str. 31, in Köln. Geöffnet bis 28. 10. 2025, von 15 Uhr bis 21 Uhr.
Zentrale Veranstaltung
zum 100. Geburtstag von Dieter Wellershoff im Literaturhaus Köln am 3. 11. 2025 um 19 Uhr. Mit Ulrike Anna Bleier, Traudl Bünger, Thomas Empl, Helge Malchow, Reinhold Neven Du Mont und Markus Schwering. Moderation: Gisa Funck.
Buchvorstellung
von „Die Stadt ist wie ein ungeheures Buch – Ansichten von Köln“ am 3. 12. 2025 um 19 Uhr im Interim der Zentralbibliothek in der Hohe Straße 68-82 in Köln. Mit Herausgeberin Gabriele Ewenz sowie Michael Kohtes und Hajo Steinert.
Lesung
von Bert Hahn aus Dieter Wellershoffs „Der Ernstfall“ im Historischen Archiv der Stadt Köln (Eifelwall 5) am 6. November um 18 Uhr. Der Eintritt ist frei.
Markus Schwering: „Krise und Utopie – Dieter Wellershoff – Leben und Werk“, Böhlau Verlag, 420 Seiten, 39 Euro.
Dieter Wellershoff: „Die Stadt ist wie ein ungeheures Buch – Ansichten von Köln“, hrsg. von Gabriele Ewenz, Lilienfeld Verlag, 328 Seiten, 24 Euro. E-Book: 18,99 Euro.
Peter Henning: „Vom Leben berührt – Erinnerungen an Dieter Wellershoff“, Kiepenheuer & Witsch, 112 Seiten, 16 Euro. E-Book: 14,99 Euro.



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