Mit freundlichen Grüßen an Herrn K. und Bundeskanzler Kohl: Erinnerungen an Leben und Werk des Schriftstellers Dieter Wellershoff im Literaturhaus Köln

Dieter Wellershoff bei der Manuskriptbesprechung zu „Der Himmel ist kein Ort“ mit Tochter Irene an Weihnachten 2008. Foto: Bodo Witzke

Mein Vater hob den Familienalltag auf ein höheres Energielevel“, schreibt Irene Wellershoff. „Er war das unruhige geistige Kraftzentrum, das unentwegt arbeitete, originelle Gedanken und Theorien produzierte und zu jeder Meinung, die ihm klischeehaft und undurchdacht erschien, einen Widerspruch formulierte.“

Die prägnante Erinnerung an Dieter Wellershoff ist nur eines von vielen prächtigen Mosaikstücken, die der von Werner Jung herausgegebene Band „Verborgene Texte des Lebens“ bereithält. Nun stellen der Herausgeber und die Beiträgerin das Buch im Kölner Literaturhaus vor, um an den vielfach ausgezeichneten Schriftsteller zu erinnern, der am 3. November 1925 in Neuss geboren wurde und am 15. Juni 2018 in Köln gestorben ist. Wellershoff selbst – dies noch am Rande – gehörte dem Verein Literaturhaus Köln an und war in den Anfangsjahren als Beisitzer tätig.

Kisten und Kartons durchstöbert

Der Band versteht sich als Lesebuch zur Biographie des Autors. Von den darin versammelten Texten und Fotografien waren nicht wenige bislang unbekannt. „Eine Vielzahl von Typoskripten und Manuskripten“, schreibt der Germanist Werner Jung, seien in Kisten und Kartons in der Mainzer Straße in der Kölner Südstadt entdeckt worden. Darunter Notizen, Entwürfe, Unveröffentlichtes. Vieles fasziniert selbst schon als Idee. So die Geschichte der Frau, die einen Mann anruft, den sie auf einer Party kennengelernt hat und von dem sie sicher ist, dass er sich bei ihrem Anruf sofort an sie erinnern werde. Nur – das tut er nicht. Die Frau, eh schon frustriert, ist nun noch frustrierter.

Einen Schwerpunkt bildet die Korrespondenz, die Dieter Wellershoff gepflegt hat. Darin ging es – wie sollte es anders sein – oft um literarische Fragen. An den von ihm sehr geschätzten Literaturwissenschaftler Manfred Durzak, der seine Werkausgabe betreut hat, wendet sich der Autor, um sich mit ihm über „eine Irritation“ zu verständigen. Dabei geht es um die Einschätzung, „meine essayistische Intelligenz stünde meiner literarischen Intuition und Ausdruckskraft im Wege.“ Das sei ein altes und nie belegtes Geraune, schreibt Wellershoff leicht verstimmt: „Dieses Beharren auf der Vorstellung, dass es einen unüberbrückbaren, prinzipiellen Gegensatz zwischen analytischem, argumentierendem Denken und intuitiver Phantasie geben müsse, ist mir fremd.“

„Sie scheinen ein intelligenter Mensch zu sein“

Aber Literatur ist nicht alles. Vielen anderen Themen widmet sich Wellershoff. Dies geschieht meist mit spürbarer Konzentration – gleichgültig, ob der Adressat prominent ist oder unbekannt. An Bundeskanzler Helmut Kohl schreibt er am 13. Dezember 1988, dass die Menschen „nicht hilflose Mitläufer und zynische Nutznießer einer irreversiblen Zerstörung der menschlichen Lebensgrundlagen sein“ wollen. Wichtiger als neue Theater und neue Museen seien daher „gesunde Lebensräume, sauberes Wasser und frische Luft“. Darin sehe er „einen neuen, erweiterten Kulturbegriff“.

Am folgenden Tag, dem 14. Dezember, antwortet er dem Strafgefangenen K. auf dessen Brief. „Was soll ich Ihnen raten? Sie scheinen ein intelligenter Mensch zu sein, der erkennen kann, dass Kriminalität in der Regel kein dauerhaftes Gewinnspiel ist.“ Sich aus einer kriminellen Vergangenheit zu lösen, schreibt der Autor, sei ein schwieriger Nachreifungsprozess, der günstige Bedingungen brauche, denn man müsse sich vom Diktat des Wunschdenkens lösen und sich selbst in größeren Zusammenhängen neu verstehen. Er rät zum Kontakt mit einem Psychotherapeuten: „Sich selbst zu entdecken und neu in die Hand zu bekommen, das kann ein großartiges Erlebnis sein. Mit 46 Jahren sind Sie nicht zu alt dazu. Es ist vielmehr das Alter, in dem alle Menschen, auch die sozial erfolgreichen, noch einmal über sich nachzudenken beginnen und ihre Lebensmaximen und Gewohnheiten, ihre Werte und ihre Phantasien überprüfen.“

„Ach so ist das“

Diese Selbstüberprüfung war dem Autor eine permanente Lebensaufgabe. Sie war entscheidend für die „Aufklärung über das Leben“, die Werner Jung als zentralen Aspekt im Werk des Autors ausmacht. Diese „Aufklärung“ erfolgte vor dem Hintergrund der bewusstseinsprägenden Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und der Möglichkeit des Neuanfangs. In einem Brief an Günter Grass schreibt Dieter Wellershoff im Jahre 2007: „Jeder, der wie wir, durch dieses Zeitalter der Kriege und der machtgestützten Ideologien hindurchgegangen ist, wurde davon gezeichnet. Aber es überlebt zu haben und so die Chance zu erhalten, etwas aus dem geschenkten Leben zu machen, ist ein umso größeres Glück.

Mehrfach kommt Wellershoff auf die Antwort seines Freundes Franz zu sprechen, der von einem Kopfschuss hingestreckt worden war und diesen noch eine Weile überlebte. „Ich fragte ihn, ob er sich erinnere, was er gedacht habe, als er getroffen wurde, und er sagte, er habe gedacht: ‚Ach so ist das.‘ Zwei Wochen später war er tot.“ Dieses „Ach so ist das“ wurde für den Schriftsteller, schreibt Werner Jung, das „Kennwort“ der Ernüchterung seiner Generation.

„Als Mutter gehöre sie ganztägig nach Hause“

Es ist ein reiches Lesebuch. Darin ist auch von Ehefrau Maria Wellershoff (1922-2021) die Rede. Zwei kurze Lichtblitze erinnern an erschreckende Geschlechter-Verhältnisse, die in der deutschen Gesellschaft erst mit den 68ern ins Wanken gerieten. Dieter Wellershoff selbst schreibt, es sei eine traumatische Erfahrung gewesen, als die beiden ersten Kinder geboren wurden und seine Frau ihre Anstellung in der Redaktion des Lexikons für „Antike und Christentum“ verlor: „Ihr katholischer Chef, Professor Klauser, der auch der Lehrer des späteren Papstes Benedikt war, vertrat die dogmatische Auffassung, als Mutter kleiner Kinder gehöre sie ganztägig nach Hause.“

Eine weitere berufliche Enttäuschung führt Tochter Irene Wellershoff an. Ihre Eltern, schreibt sie, hätten zusammen die erste Gesamtausgabe von Gottfried Benn erarbeitet. Jedoch: „Die Witwe Benns bestand gegenüber dem Verlag darauf, nur Dieter als Herausgeber zu nennen, denn es sei nicht im Interesse ihres verstorbenen Mannes, wenn eine Frau in den Werken als Mitherausgeberin erscheinen würde.“

Mit der Axt in der Hand

Überhaupt ist der Beitrag von Irene Wellershoff eine Fundgrube – wohin man auch schaut. So stellt sie fest, dass der Vater furchterregend wirken konnte, wenn jemand seinen Zorn erregt hatte. Als er eines Tages hörte, wie ein nörgeliger Nachbar Maria Wellershoff beschimpfte, ließ er vom Holzhacken ab und eilte „zornentbrannt“ die Kellertreppe hoch: „Erst als der Nachbar gegen die Wand zurückwich und auch meine Mutter blass wurde, bemerkte Dieter, dass er die Axt noch in Händen hielt. Danach ließ der Nachbar meine Mutter in Ruhe.“

Auch gewährt die Tochter schöne Einblicke in den Schreiballtag des Autors. Der war, wenn ein Roman anstand, geprägt von totalem Rückzug und begleitender Musik. So lebt man eben, wenn das literarische Schreiben zum existenziellen Kern gehört. Als Dieter Wellershoff nicht mehr schreiben konnte, das teilte Maria Wellershoff ihrer Tochter nach seinem Tod mit, habe er den Lebenswillen verloren. Und Irene Wellershoff selbst hält fest: „Zu mir sagte er: ‚Es ist gut, dass es jetzt vorbei ist. Aber es ist auch gut, dass es gewesen ist.‘“

Martin Oehlen

Im Literaturhaus Köln

stellen Werner Jung und Irene Wellershoff sowie Bernt Hahn als Sprecher das Buch „Verborgene Texte des Lebens“ am 3. November um 19.30 Uhr vor – live vor Ort und im Livestream. An diesem Tag wäre Dieter Wellershoff 97 Jahre alt geworden.

Werner Jung (Hg.): „Dieter Wellershoff – Verborgene Texte des Lebens“, Aisthesis Verlag, 350 Seiten, 28 Euro.

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