
Wie sie sie es mit dem Verzehr von Fleisch halte, wurde Nava Ebrahimi gleich zu Beginn des Kölner Abends gefragt. Moderatorin Anne Burgmer, Leiterin des Feuilletons beim „Kölner Stadt-Anzeiger“, erkundigte sich mit gutem Grund nach dem Speiseplan. Denn ein Geflügelschlachthof im Emsland spielt eine erhebliche Rolle im neuen Roman der Autorin: „Und Federn überall“ (Luchterhand).
Tatsächlich habe sie eine Weile den Verzehr von Hühnerfleisch gemieden, sagte Nava Ebrahimi bei dieser Veranstaltung des Literaturhaus Köln im bestens besuchten Saal des Museums für Angewandte Kunst. Allerdings: „Die Themen Fleischverzehr und Tiere haben mich – was vielleicht überraschend ist – beim Schreiben gar nicht so sehr interessiert.“
Brennglas für unsere Zeit
Vielmehr habe sie die Fleischproduktion als gutes Beispiel für die weit verbreitete Verdrängung in vielen Lebenslagen erkannt. Als „Brennglas“ für unsere Zeit. Einerseits würden Hunde und Katzen mit Regenjacken versehen, sagte sie, andererseits verspeisten wir alle möglichen Lebewesen. „Wir wollen die Haltung der Tiere und ihre Zerlegung für den Konsum nicht sehen, obwohl wir täglich damit zu tun haben. Wir haben das weggeschlossen – und es funktioniert. Das gilt für vieles im Leben.“
Dazu passen die „Wooden Breasts“ perfekt. Dabei handelt es sich um eine gelegentlich auftretende Mutation bei Masthühnern, wie sie die fiktive Firma Möllring im fiktiven Ort Lasseren im Emsland züchtet. Diese Verhärtung der Muskulatur, die dem Fleischgenuss abträglich ist, muss am Fließband ertastet und das davon befallene Tier aussortiert werden. Alles andere als ein Traumjob.
Ein Huhn kraulen
Als Nava Ebrahimi vom Phänomen der „hölzernen Brust“ erfuhr, merkte sie das erste Mal auf. Ein zweites Mal war dies der Fall, als sie auf einer Party einen Gast beobachtete, der ausdauernd ein Huhn kraulte, was dem Geflügel sichtlich gefiel. Es war ein Bild, das sie nicht vergessen konnte. „So kommen über Jahre Geschichten zusammen“, sagte sie, „und irgendwann wird daraus ein Roman.“
Es sind sechs Personen, die wir einen Werktag lang, vom Morgen bis zum Abend, begleiten. Dazu gehören die überforderte Fließbandarbeiterin Sonia, der Gedichte schreibende Flüchtling Nassim aus Afghanistan und seine polnische Freundin Justyna, die 20 Jahre älter ist als er, zudem die Ingenieurin Anna, der Prozessoptimierer Merkhausen und Roshi, die deutsch-iranische Schriftstellerin, die Nassim beim Schreiben beistehen will. „Man kann – man muss aber nicht – den Roman so lesen, als hätte Roshi ihn geschrieben“, erläuterte Nava Ebrahimi. „Sie wollte eigentlich gar nicht in dieses Emsland reisen, doch dann findet sie dort die Geschichte für ihren Roman.“

„Es ist total wichtig“
Sie selbst, merkte Nava Ebrahimi an, habe als Schriftstellerin in den vergangenen drei Jahren in einem Konflikt gelebt. Die von Frauen befeuerten Proteste im Iran, wo sie geboren wurde, aber auch die globalen Verwerfungen hätten sie ein ums andere Mal vor die Frage gestellt, welchen Sinn das Schreiben noch habe. Da setzten Zweifel ein und keimte der Gedanke, dass es „bekloppt“ sei, Romane zu schreiben. „Ich dachte darüber nach, ob ich nicht aktivistisch sein müsste, in ein Boot steigen oder auf die Straße gehen.“
Doch dann sei ihr bewusst geworden, dass sie sich in der Rolle der Aktivistin nicht wohlfühle – „das geht mir zu schnell.“ Auch ist Nava Ebrahimi der Ansicht – wenngleich sie sich auch in diesem Fall misstraue – dass Literatur unentbehrlich sei. Sie stellte fest: „Es ist total wichtig, dass wir uns mit anderen Lebenswelten beschäftigen – als Schreibende und als Lesende.“ Damit wolle sie weder die Literatur noch eine andere Kunstform einem Zweck unterstellen. Aber sie wisse: „Die Literatur tut was mit uns.“
Sehnsucht nach Zusammenhalt
So macht uns der Roman von Nava Ebrahimi darauf aufmerksam, wie es um unsere Gesellschaft bestellt ist. Seine Figuren sehnen sich nach Nähe und Wärme, aber wissen nicht, wie sie das bewerkstelligen sollen. Das passt in die Gegenwart, wie Nava Ebrahimi sie sieht: „Auf der einen Seite ist das Recht des Stärkeren zurückgekehrt, so dass jeder sehen muss, wo er bleibt. Auf der anderen Seite gibt es ein großes Bedürfnis nach Zusammenhalt, aber wir wissen nicht wie.“
„Niemand wird am Ende der Veranstaltung rausgehen und denken, nun das ganze Buch zu kennen“, prognostizierte Moderatorin Anne Burgmer in ihrer Begrüßung. Tatsächlich wurde der Roman „Und Federn überall“ im Laufe der Veranstaltung von allen möglichen Ecken und Enden beleuchtet. Doch dass bei diesem Sechs-Personen-Drama noch sehr viel mehr zu entdecken ist, steht außer Frage. Dazu zählen Heimat und Identität, Optimierung und Automatisierung, Pubertät und polnische Vergangenheit: der Roman, der auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis stand, ist ein weites und blühendes Feld.
Martin Oehlen
Der Kölner Dom
ist für Nava Ebrahimi – die im Iran geboren wurde, in Köln aufgewachsen ist und heute in Graz lebt – weiterhin ein besonderes Bauwerk. Wann immer sie ihn sehe, sagte sie jetzt im Museum für Angewandte Kunst, „kommen mir die Tränen“. Über ihre Kölner Zeit hat sie mit mir für die Literaturkarte der Stadtbibliothek Köln, die LIK.map, gesprochen. Wen das interessiert: https://literaturinkoeln.de/?s=Ebrahimi
Auf diesem Blog
hat das Werk von Nava Ebrahimi schon einige Spuren hinterlassen. Zuletzt haben wir HIER über ihren Band „Wer ich geworden wäre, wenn alles ganz anders gekommen wäre – Herkunft. Identität. Imagination“ (Droschl) anlässlich eines Auftritts in Wien berichtet.
Außerdem gibt es HIER eine Würdigung des Romans „Sechzehn Wörter“ anlässlich der Wahl dieses Romans zum „Buch für die Stadt“ im Jahr 2022 in Köln und Umgebung.
Nava Ebrahimi: „Und Federn überall“, Luchterhand, 352 Seiten, 24 Euro. E-Book: 18,99 Euro.
