„Hätte Kamala Harris die US-Wahl gewonnen, hieße der Roman anders“: Angela Steidele im Gespräch über „Ins Dunkel“, über die Garbo und die Dietrich und unsere Demokratie

Angela Steidele Foto: Bücheratlas / M. Oe.

Frau Steidele, im Roman selbst heißt es an einer Stelle, er sei darauf zurückzuführen, dass die Erzählerin im Fernsehen zufällig Greta Garbo in dem Spielfilm „Königin Christine“ gesehen haben. War das so?

Da geht der Roman tatsächlich an seine autobiographische Wurzel. Mich hat damals gepackt, eine Königin in Männerkleidern zu sehen, in Hosen und hohen Stulpenstiefeln, die ihre Hofdame auf den Mund küsst. Und gepackt hat mich gleichzeitig, eine Herrscherin zu sehen, die den Krieg nicht sucht, sondern ihn beenden möchte, und die die Wissenschaft und Künste fördern möchte. Ich war da erst 12 Jahre alt und habe eigentlich nichts kapiert, aber ich war unendlich beeindruckt und habe die folgenden Jahre damit zugebracht zu verstehen, welche Begegnung ich da erlebt hatte.

Warum hat es dann noch so lange gedauert, bis daraus ein Roman wurde?

Weil man gut unterscheiden muss zwischen einer privaten Obsession und einem literarisch gestaltbaren Stoff. Greta Garbo war mein großer Liebling und ich wurde Greta-Garbo-Expertin. Es gibt keine Neuerscheinung zum Thema, die mir entgeht. Von Greta Garbo bin ich natürlich zu Marlene Dietrich weitergegangen – und vor allem zum frühen Film. Ich liebe Stummfilme und finde den Übergang von Stumm- zu Tonfilm extrem spannend. Das war also zunächst eine Liebhaberei, ein Hobby.

Wann wurde Ihnen klar, dass die Garbo ein literarisches Potenzial hat?    

Den Zugang zum Stoff habe ich gefunden, als ich merkte, wie sehr der Medienwechsel zum Internet und die digitale Revolution den Faschismus und die Infragestellung von Demokratie möglich macht. Da ist nämlich eine Parallele zum frühen Film. Der Medienwechsel hat dort ebenfalls seinen Anteil daran, die Wahrnehmung von Wirklichkeit zu verunsichern. Der Film wurde – wie die Fotografie 60 Jahre früher – als dokumentarisches Medium wahrgenommen. Dabei ist es überhaupt nicht so. Denn Inszenierung und Erzählung sind von Anfang an dabei. Aber beide Medien, Film und Fotografie, kommen so unheimlich wirklichkeitsnah daher, dass sie als Dokumentationen akzeptiert wurden. Mittels Film zu lügen ist wesentlich einfacher als beispielsweise mittels eines Romans. Mir wurde also beim Nachdenken über den frühen Film und den Aufstieg des Faschismus klar, dass ich Parallelen zum Heute ziehen kann. Das Ganze aber nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern auch auf turbulente, amüsante und unterhaltende Art und Weise.

„Ich bin extrem in Sorge“

„Ins Dunkel“ heißt der Roman, was durchaus doppelsinnig ist: Zum einen beschreibt es die Erzählsituation im Kinosaal, zum anderen den historischen Zeitstrahl, der in den Nationalsozialismus führt.

Der Roman hatte lange den Arbeitstitel „Greta und Marlene“. Dann wurde mir klar: Nein, ich habe hier etwas Größeres unter der Hand und das löst sich von den beiden Personen. Lange war der Roman danach titellos. Dann saß ich – nach dem Makrolektorat beim Verlag in Berlin – im Zug und war ganz beseelt von zwei Tagen voller Gespräche mit meiner Lektorin und weil ich wusste, wie ich das Manuskript überarbeiten wollte. Auf einmal wurde mir in diesem ICE der Titel klar: „Ins Dunkel“. Ich habe dann Probeleser gefragt, was sie davon halten. Deren Reaktion war zustimmend, aber etwas verhalten. Dann dachte ich: Wenn Kamala Harris die Präsidentenwahl in den USA gewinnt, dann kann der Roman nicht „Ins Dunkel“ heißen, und wenn Trump gewinnt, dann muss er „Ins Dunkel“ heißen. Mittlerweile bin ich sehr glücklich mit dem Titel – traurig glücklich.

Tatsächlich handelt der Roman nicht nur von den beiden Schauspielikonen und ihren Freundinnen und Bekannten. Auch geht es darin um den Übergang von der Demokratie in die Nazi-Diktatur. Sind Sie in Sorge über die aktuelle politische Entwicklung in der Welt?

Extrem in Sorge. Das Verzweifeln an unserer Gegenwart hat mir ungemein geholfen, aus der privaten Greta-Garbo-Obsession einen Stoff zu gestalten. Was ich begriffen habe: Einmal errungene Freiheiten sind nicht für immer errungen, sondern müssen ständig neu erkämpft werden. Für heute ist klar, was damit gemeint ist – Demokratie, Frauenrechte, Abtreibung. Ich wünsche mir drei Dinge für die Rezeption dieses Buches: man soll lachen, man soll sich wie im Kino fühlen und man soll Schwung mitnehmen für den eigenen Kampf für die Demokratie.

Der Roman führt einige Verbindungslinien zur Gegenwart an. Vor allem die Hinweise auf den Kampf zwischen freier und unterdrückter Gesellschaft fallen auf. Der Begriff „Lügenpresse“ war schon in der NS-Propaganda ein Kampfbegriff. Und in Hollywood lassen Sie Ronald Reagan rufen „America first“, als wäre Donald Trump nur sein Wiedergänger.

Eine weitere Parallele ist die Wirtschaftskrise. Die große Depression in den USA führte zu einer Restauration, in deren Folge Bürgerrechte und Frauenrechte beschnitten wurden. Unglaublich spannend ist auch der Hays-Code, eine Art Selbstzensur aus dem Jahre 1934: Einer Behörde mussten Drehbücher und Filme vorgelegt werden. Das hatte die witzigen Küsse zwischen Unterlippe und Kinn zur Folge. Auch durften Frauen nicht im Bett liegen, und selbst Eheleute hatten getrennte Schlafzimmer. Bloß keine Ehen zwischen Schwarzen und Weißen! Katholische Geistliche und Polizisten mussten immer gut dargestellt werden. Damit hat sich das Hollywood-Kino über Jahrzehnte selbst blockiert.

„Garbo und Dietrich stehen am Ende der ersten Frauenbewegung“ 

Im Roman heißt es über die Garbo und die Dietrich: „Die beiden haben mit ihrer Ausstrahlung und ihren Hosen mehr für die Frauenemanzipation getan als alle klugen Bücher zusammen.“ Stimmt das?

Wenn man weit rausgeht ins Weltall und auf die Entwicklung der Frauenbewegung schaut, dann stehen Greta Garbo und Marlene Dietrich am Ende der ersten Frauenbewegung. Gemeint ist damit das 19. Jahrhundert, der Kampf für Bildung, der Zugang zu Gymnasium und Universität, schließlich das Frauenwahlrecht und die Berufstätigkeit. Auch das „Reformkleid“ mit der buchstäblichen Befreiung vom Korsett und die freie Wahl in der Liebe. Greta Garbo und Marlene Dietrich verkörpern einen Endpunkt in dieser ersten Bewegung. Sie leben die völlige Freiheit in der Liebe. Sie nehmen sich, wen sie wollen und welches Geschlecht sie wollen. Sie rauchen öffentlich und erobern den Frauen die Hose. Sie waren – wie wir heute sagen würden – Influencerinnen von unermesslichem Ausmaß.  Die beiden trugen privat und in den Filmen Hosen, und Greta Garbo hat dann auch noch ihren Büstenhalter weggelassen. Das Korsett war da wirklich gesprengt, und die Frau konnte sich bewegen.

Greta Garbo und Marlene Dietrich haben sich für die „neue Frau“ und „das dritte Geschlecht“ stark gemacht. Wo stehen wir heute?

Das Thema Abtreibung ist weltweit ein Indikator, wie es um Demokratie, Menschenrechte und Emanzipation bestellt ist. Frauen die Autonomie über ihren Körper abzusprechen, ist das Einfallstor, um andere zu bevormunden und ihnen den Subjektstatus zu nehmen und den Objektstaus zuzuweisen.  Deswegen steht dieser Vorgang sinnbildlich für den Angriff auf die Demokratie – es sollen nicht alle gleich sein. Das gilt weltweit und es gilt auch in den USA, wo Schwarze nicht gleich sein sollen und Frauen auch nicht.

„Was uns verbindet ist wichtiger als was uns trennt“

Der Roman ist als Film bzw. Filmvorführung angelegt. Wir sitzen gleichsam im Kinosaal und schauen gemeinsam mit der Erzählerin auf die Leinwand. Wie kam es zu dieser Konstellation?

Zunächst hatte ich Skrupel, den Spieß umzudrehen. Tausende von Romanen sind verfilmt worden. Aber kann man auch einen Roman als Film erzählen? Kann das funktionieren? Dabei wurde mir klar: So vieles hat sich der Film vom Roman abgeguckt, zum Beispiel die Rückblende oder die Parallelmontage. Die größten Skrupel bei dieser Idee, filmisches Erzählen in einen Roman zu übertragen, ergaben sich aus der Frage: Darf ich „wir“ sagen.

Dieses „wir“ ist ja nicht der Pluralis Majestatis.

Den Pluralis Majestatis lehnen wir natürlich ab – im 19. Jahrhundert ist dieses „wir“ pompös und nie als „wir“ gemeint, sondern als „Ich sage Euch mal, wo es langgeht. Ich denke mir dieses „wir“ als Auditorium, als Gemeinschaft derer, die im Kinosaal sitzt und so ziemlich an denselben Stellen lacht oder weit. Da habe ich gerungen. Aber dann hat mir wieder die Gegenwart Mut gemacht, weil im Moment das Spalten so sehr betont wird. Alle wollen uns auseinanderbringen und gegeneinander aufhetzen. Dabei ist doch das, was uns als Menschen in der Conditio Humana vereint, so viel stärker und wichtiger als das, was uns trennt. Da dachte ich mir: Vielleicht ist es mal an der Zeit, ein freundliches „wir“ in einem wohlwollenden Miteinander zu betonen.“

Der Roman ist sehr reich an Dialogen. Das Gespräch geht immerzu hin und her. Liegt Ihnen diese Form des Erzählens oder ist sie dem „Filmkonzept“ des Romans geschuldet?

Das ist eine Referenz ans Kino. Ich liebe Screwball-Comedies mit ihrer hohen Schlagzahl – und ich wollte ebenfalls diese Schlagzahl haben. Der zweite Grund ist: In ihrer Rede – wie sie sprechen und wie sie miteinander sprechen – charakterisieren sich die Personen immer selbst. Dadurch spare ich langwierige Beschreibungen, wie jemand ist.

Einmal wird die Filmvorführung im Roman wegen eines technischen Problems unterbrochen. Den Moment nutzt die Erzählerin, eine gewisse Angela Steidele, um in Paris Marlene Dietrich und Erika Mann zu besuchen.

Das ist eine Sache, die zunächst noch stärker drin war im Roman. Das kommt aus meine Schreiberfahrung heraus. Alle Figuren erzählen ihre Variante der Vergangenheit. Beim Lesen bekommt man mit, dass jeder seine eigene Nuance hat und dass sich manche auch diametral widersprechen. Als Biografin bin ich mit diesen Lebenslügen schon oft konfrontiert worden. Eigentlich tritt der Roman an diesen Stellen kurz aus sich raus: der Film wird unterbrochen, und Angela Steidele betritt die Wohnung von Marlene Dietrich. Da gebe ich den Figuren Gelegenheit, sich gegen meine Projektion und meine Variante der Vergangenheit zu wehren. Marlene Dietrich und Erika Mann erklären dann das, was ich so denke, als schlichtweg unmöglich und emanzipieren sich von meiner Erzählung. Das Buch ist extrem aufwendig recherchiert und versucht, sehr nahe an der Überlieferung zu bleiben. Doch hier biete ich den Figuren und dem lesenden Publikum an, zu erkennen, dass dies alles ein Entwurf von Angela Steidele ist.

„Thomas Mann schaut verschämt vom Himmel herab“

In diesem Roman führen vor allem Frauen das Wort. Aber es mischen auch einige Männer mit – direkt und indirekt. Thomas Mann kommt dabei nicht so gut weg. Signe von Scanzoni, die enge Freundin von Erika Mann, sagt: „Wissen Sie, er hat im kleinen Kreis selbst zugegeben, dass seine demokratische Attitüde nie recht wahr gewesen ist und nur die Nazis ihn zeitweise zum demokratischen Wanderredner gemacht haben – seine Worte.“

Thomas Mann ist mein Abgott und Lehrherr, wenn es ums epische Erzählen geht. Ich meine nicht seine Syntax, sondern wie er sein Material anordnet, wie er die Figuren und die Accessoires und Requisiten führt, ist großartig. Auch die höhere Heiterkeit, für die er steht, die Ironie – das schätze ich. Ich lache mich bei Thomas Mann schlapp.

Aber …

Obwohl ich ihn liebe und verehre, habe ich inhaltlich als Demokratin und Feministin große Schwierigkeiten mit dem Gesamtoeuvre. Er hat keine einzige überzeugende Frauengestalt geführt. Und alle seine männlichen Figuren sind eigentlich Aristokraten – geistige oder wirkliche Aristokraten. Er selbst hat zwischen seinem literarischen und seinem politisch-essayistischen Werk streng unterschieden. Wenn man ihn fragen würde, was zählt, würde er immer sagen: die Literatur. Das andere ist Tagewerk, zu dem er eher gezwungen wurde.

Und das im Jubiläumsjahr des Thomas Mann, der vor 150 Jahren geboren und vor 70 Jahren gestorben ist!

Ich glaube, dass Thomas Mann im Himmel auf das Thomas-Mann-Jahr verschämt guckt oder sogar rot anläuft: „Leute, wie könnt Ihr mich als Demokraten feiern – das ist nicht Euer Ernst!“ Was mir fehlt im Thomas-Mann-Jahr, ist die Würdigung des Epikers. Was er literarisch und erzähltechnisch geschaffen hat, kommt viel zu wenig vor. Natürlich versteht sich der Roman augenzwinkernd als ein kleines feministisches Contra zum „Zauberberg“. Da reden die Männer im Sanatorium in Davos, bei mir reden die Frauen in Klosters – natürlich gibt es da die Fallhöhe: Davos liegt höher als Klosters. 

„Man arbeitet nicht mit Nazis zusammen – basta“

Gegen Ende des Romans richtet Erika Mann die Gretchenfrage an Greta Garbo: „Sie waren 1939 die berühmteste Schauspielerin der Welt, auch und gerade in Deutschland verehrt wie niemand sonst. Warum haben Sie geschwiegen?“. Ja, warum hat Greta Garbo nicht gegen die Nazi-Diktatur Position bezogen? 

Greta Garbo hat sich nie zu irgendetwas geäußert. Sie wollte Schauspielerin sein und sonst nichts. Ihr war gar nicht recht, dass sie eine unglaubliche öffentliche Person war. Sie ist vor ihrem Mythos geflohen. Sie hat darunter körperlich gelitten. Doch was ihren Beitrag zur „neuen Frau“ angeht, so war sie eine politische Gestalt. Im Grunde ist sie heute politischer denn je. Wenn wir Begriffe wie „genderfluide Persönlichkeit“ oder „nonbinär“ verwenden, können wir auf Greta Garbo gucken.

Marlene Dietrich hingegen ruft zum Widerstand gegen die Nazis auf. Im Roman empfiehlt sie sogar den Tyrannenmord, nachdem ihr gerade das „Mutterkreuz“ überreicht worden ist.

Hut ab vor Marlene Dietrich! Die Nazis haben ihr den roten Teppich ausgelegt, doch sie hat „nein“ gesagt. Sie hatte einen klaren moralischen Kompass. Ein Satz, den sie original gesagt hat und den ich im Roman wiederhole: „So etwas gehört sich nicht!“ Man arbeitet nicht mit Nazis zusammen – basta. Kürzer kann man’s nicht sagen. Und was hat die sich nach dem Krieg nicht alles anhören müssen: „Marlene go home!“

Was bleibt von der Schauspielkunst der beiden? Kann man sich die Schwarzweiß-Filme heute noch ansehen?

Für die Schauspielkunst der Greta Garbo kann ich mich immer noch begeistern. Sie hat das Spiel im Film subtil gemacht: Sie guckt hin und sie guckt weg – und man weiß auf einmal alles. Für mich funktioniert dieses Gesicht immer noch. Marlene Dietrich war gar keine Schauspielerin, sondern ein Gesamtkunstwerk. Die Dietrich spielte hölzern. Zu diesem Gesamtkunstwerk gehören die Antifaschistin, die Sängerin, die Berliner Schnauze, die öffentliche Figur. Künstlerisch ist der Fall zwischen der Garbo und der Dietrich entschieden. Aber menschlich bin ich mir nicht so sicher.

Das Gespräch führte Martin Oehlen

Auf diesem Blog

haben wir schon einige Male über das literarische Wirken von Angela Steidele berichtet. Zuletzt ging es um ihren Auftritt mit „Rosenstengel“ bei „Nimm Platz“ auf dem Kölner Neumarkt (HIER). Zuvor haben wir unter anderem ihren Roman „Aufklärung“ (HIER) und ihre „Poetik der Biografie“ (HIER) vorgestellt.  

Premierenlesung

mit Angela Steidele am 9. September um 19.30 Uhr im Kölner Filmhaus (Maybachstraße 111). Die Veranstaltung des Literaturhaus Köln moderiert Thorsten Dönges.

Anschließend gibt es Lesungen im Kloster auf Hiddensee (12. 9.), in Berlin im Hackesche Höfe Kino (18.9.) und im Filmstudio Glückauf in Essen (29. 9.). Die Lesereihe geht weiter im Oktober und November.

Angela Steidele: „Ins Dunkel“, Suhrkamp, 358 Seiten, 26 Euro. E-Book: 21,99 Euro.

2 Gedanken zu “„Hätte Kamala Harris die US-Wahl gewonnen, hieße der Roman anders“: Angela Steidele im Gespräch über „Ins Dunkel“, über die Garbo und die Dietrich und unsere Demokratie

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