„Sicher ist, die Windrichtung kannst du nicht ändern“: Jürgen Becker, eine Säule der deutschen Nachkriegsliteratur, ist gestorben

Jürgen Becker in seinem Wohnzimmer in Köln-Brück Foto: Bücheratlas / M.Oe.

Ruhe ist nicht angesagt“ steht im Schlusssatz der „Nachspielzeit“, dem in diesem Jahr erschienenen Band mit Sätzen und Gedichten von Jürgen Becker. Ursprünglich wollte der Autor sein Buch Ende August im Literaturhaus Köln vorstellen. Allerdings musste er dann doch aus gesundheitlichen Gründen absagen. Womöglich hätte er die Lesung absolvieren können, doch der Wirbel drumherum wäre wohl zuviel der Anstrengung gewesen.

Die Schreibkladde auf dem Küchentisch

Der augenzwinkernde Titel „Nachspielzeit“ verweist nicht nur auf den Fußballfreund Becker, der die Fahne von Preußen Dellbrück hochhielt. Auch ist er der Tatsache geschuldet, dass zwei Jahre zuvor der voluminöse Band mit „Gesammelten Gedichten – 1971 bis 2022“ erschienen war. Doch ein Schlussstrich sollte das ja nicht sein. In der schönen Ausgabe befinden sich auch Collagen seiner 2021 verstorbenen Ehefrau Rango Bohne, mit der er im Laufe der Jahre einige „Korrespondenzen“ von Bild und Text veröffentlicht hat; außerdem wartet der Band mit Fotografien seines Sohnes Boris Becker auf, mit dem er einige Fotografie-Ausstellungen bestritten hat.

Bis ins hohe Alter war der Schriftsteller aktiv, dessen Schaffen wir auf diesem Blog schon einige Male gewürdigt haben – zuletzt HIER. Die Schreibkladde lag auch noch im letzten Lebensjahr aufgeschlagen auf dem Küchentisch. Und wenn ihm danach war, stieg Jürgen Becker in seinen Wagen, um sich eine Tageszeitung und eine Packung „Gitanes“ zu kaufen. Auch hat er es erst spät zugelassen, dass sein Sohn für ihn den Rasen im Garten mähte.

Jürgen Becker mit seinem Sohn Boris Becker Foto: Bücheratlas / M.Oe.

Erleben, erfahren, erinnern

Im Suhrkamp Verlag liegt Jürgen Beckers umfangreiches Werk vor. Es bietet Lyrik, Romane, Erzählungen und Hörspiele. Legendär sind die frühen Prosaexperimente „Felder“ (1964) und „Ränder“ (1968), mit denen er sich gegen den etablierten Roman wandte. Zeitlebens verwies er darauf, sich keinen Plot ausdenken können. Seine Sache war das Erleben, das Erfahren und das Erinnern. Zunehmend wurde sein Werk geprägt von der Form des Journals.

„Augenblicke reihen sich aneinander“, sagte Jürgen Becker einmal. Und jeder Augenblick führe zurück in die Vergangenheit, ob man sie nun kenne oder auch nicht. „Das Vergangene wirkt weiter.“ Der Zweite Weltkrieg war ein immer wieder aufblitzendes Thema. Ebenso die deutsch-deutsche Teilung. Aber auch die Landschaft, die offene wie die verbaute, boten ihm Inspiration. Ebenso der Garten in Brück oder in Odenthal mit Blick auf Vögel, Birnen und Schnee.

Jürgen Becker Foto: Bücheratlas / M.Oe.

„Das Fallen der Blätter hältst du nicht auf“

Jürgen Becker ist alles andere als ein Bestseller-Autor. Gleichwohl hat er einen unverkennbaren Sound entwickelt – geradlinig, pointiert, intensiv. Das klingt zum Beispiel so: „Sicher ist, die Windrichtung kannst du nicht ändern / und auch nicht die Farbe deiner Augen. / Das Fallen der Blätter hältst du nicht auf. / Du kannst ausmachen, aber der Nachrichtensprecher spricht weiter. / Kein Schmetterling kommt, wenn du nach ihm rufst. / Lebst du allein, sprichst du mit dir selber. / Das Weiterleben kannst du auf morgen verschieben, / aber Brot holen musst du schon heute.“

Eine gewisse Melancholie ist dem Werk eingewoben. Nur zu verständlich beim Blick auf die davonrasende Lebenszeit. „Wer wird vom eigenen Jahrgang der letzte sein“, lesen wir in der „Nachspielzeit“, „man schaut sich um und blickt in den Spiegel, der auch nicht sagen kann, ab wann man nicht mehr da ist“. Nun ist Jürgen Becker im Alter von 92 Jahren gestorben, am 7. November in seinem Haus in Köln-Brück.

Auf diesem Blog

haben wir Jürgen Becker mehrfach gewürdigt – zuletzt ging es um die „Nachspielzeit“ (HIER). Ausführlich haben wir die „Gesammelten Gedichte“ anlässlich seines 90. Geburtstags vorgestellt (HIER). Und den Fotografen Jürgen Becker findet man HIER. Weitere Texte gibt es via Suchmaske.

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