Auf Platz 1 der Krimibestenliste: Lavie Tidhars Thriller „Maror“ spielt vor dem Hintergrund von 40 Jahren israelischer Geschichte

Foto: Bücheratlas / M. Oe.

Kann man gleichzeitig Polizist und Gangster sein? Avi Sagi gelingt dieser Spagat. Der drogensüchtige Cop arbeitet als Gelegenheitskiller für die örtliche Mafia. Er schreckt weder vor Mord noch vor Erpressung zurück. Hauptsache, die Kasse stimmt. Nach einem verheerenden Bombenanschlag in Tel Aviv mit mehreren Toten heuert ihn der berüchtigte Chief Inspector Cohen als „Sonderermittler“ mit der Lizenz zum Töten an. Cohen, der Mann ohne Vornamen, ist ein fanatischer Patriot, dem jedes Mittel recht ist, um in seinem Heimatland „die Dinge in Balance zu halten“.  

Im ständigen Überlebenskampf

„Maror“ heißt dieser rasante Thriller, der aktuell auf Platz 1 der Krimibestenliste steht, die von einer 17-köpfigen Jury im Auftrag von Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur erstellt wird. Das Buch – 2022 im Original erschienen – spielt vor dem Hintergrund von 40 Jahren israelischer Geschichte. Als Maror werden die bitter schmeckenden Kräuter bezeichnet, die am Seder-Abend des Pessach-Festes gegessen werden. Sie symbolisieren, wie hart die Sklaverei in Ägypten für das jüdische Volk einst war. Und hart ist das Leben in Israel, dessen Vergangenheit und Gegenwart bestimmt sind von innerstaatlichen, historisch bedingten Konflikten und dem jahrzehntelangen Überlebenskampf inmitten der arabischen Welt.

Überzeugend schildert Autor Lavie Tidhar, 1976 in einem Kibbuz im Norden Israels geboren, wie dieses Zusammenspiel von innerer und äußerer Bedrohung eine Gesellschaft allmählich zermürbt und ihren Zusammenhalt gefährdet. Dass man all das vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse mit besonderem Interesse liest, liegt nahe.

Ein Kaleidoskop des Schreckens

Zwischen 1974 und 2008 kreuzen sich immer wieder die Wege von Avi Sagi und Cohen, diesen beiden so unterschiedlichen Männern, in deren Lebenswegen sich die Spaltung des Landes spiegelt. Da werden kurz nach dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 Grundstücke im Westjordanland vertickt, nachdem ihre arabischen Besitzer mit Gewalt vertrieben wurden. Ein gefeierter Kriegsheld entpuppt sich als Frauenschänder, eine allzu forsche Journalistin wird mundtot gemacht. Die Schauplätze – Israel, der Libanon, Florida, Kolumbien – wechseln, die Gewalt und die Unterdrückungsmechanismen sind die gleichen.

Unerbittlich lenkt Lavie Tidhar den Blick auf die Kluft zwischen der jüdischen und der palästinensischen Bevölkerung, zwischen fanatischen Orthodoxen und traumatisierten Holocaust-Überlebenden, zwischen kriegsfreudigen Politikern und einer friedenshungrigen Zivilbevölkerung. Es ist ein Kaleidoskop des Schreckens, das er entwirft, aufgesplittert in viele einzelne Geschichte, die zusammen ein großes, beeindruckendes Ganzes ergeben. Nein, in diesem Land Israel, so stellt es Lavie Tidhar in seinem Roman dar, sind die Dinge absolut nicht „in Balance“. Und die Nachrichten vermitteln uns tagtäglich, dass gerade heute die Balance tatsächlich nicht gegeben ist.

Petra Pluwatsch

Lavie Tidhar: „Maror“, dt. von Conny Lösch, Suhrkamp, 640 Seiten, 22 Euro. E-Book: 18,99 Euro.

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..