
Der rote Regenschirm ist verblüffend oft im Bild. Zwar strahlt im Werk des Carl Spitzweg (1808-1885) zumeist die Sonne und ist die Regenwahrscheinlichkeit gleich null. Doch auf rund 40 Werken ist der Schirm dennoch zu entdecken – mal unübersehbar und mal auffällig unauffällig platziert. Das kann kein Zufall sein.
Die Frau an seiner Seite
Die Ausstellung „Der rote Schirm – Liebe und Heirat bei Carl Spitzweg“ geht der Sache auf den Grund. Aktuell bis zum 16. Juni 2024 im Museum Georg Schäfer in Schweinfurt und ab September bis 15. Dezember 2024 im Kunsthaus Apolda Avantgarde im Weimarer Land. Dabei sollen wichtige Teile des Œuvres mit einem frischen Ansatz gezeigt werden: „Neu zu interpretieren sind viele seiner figurativen Szenen, für die er berühmt wurde“, heißt es im schmucken wie handlichen Katalog, der im Hirmer Verlag erscheint.
Die neue Perspektive in der von Andrea Fromm kuratierten Ausstellung – der Titel verrät es selbstredend – wird durch das oft so nützliche Accessoire bestimmt. „Den roten Schirm im Fokus“, lesen wir im Katalog, „erscheinen plötzlich viele Werke Spitzwegs in ganz neuem Licht.“ Er verberge und offenbare zugleich, was der Maler am meisten vermisse: „Die Frau an seiner Seite; und Liebe.“
Der Ewige Hochzeiter
Zumeist also dient der rote Schirm dem Künstler als Liebes- und Sexsymbol – beim „Ewigen Hochzeiter“ (in der Version von 1858-60) ebenso wie beim Schmetterlingsjäger, Sonntagsjäger, Kaktusliebhaber, Schreiber, Naturforscher, Brunnengast, verliebten Einsiedler oder bei „Sennerin und Mönch“. Selbst der berühmte „Arme Poet“ hatte im Entwurf von 1837 einen roten Schirm über dem Bett, den Spitzweg später gegen einen graugrünen eintauschte.
Mit dem roten Schirm greift Spitzweg offenbar eine Tradition im schwäbischen Land auf. Denn noch im 19. Jahrhundert war es üblich, dass ein sogenannter Hochzeitslader – also die Person, die in der näheren und weiteren Nachbarschaft die Einladungen zu einer Hochzeitsfeier aussprach – mit einem roten Schirm unterwegs war.
Kritik an Doppelmoral und Prüderie
Weil nun die Liebe und die Sehnsucht nach der Liebe, so lesen wir es ausführlich im Katalog, den Maler sein Leben lang im Privaten wie im Künstlerischen umgetrieben hat, finden wir dieses markante Motiv ein ums andere Mal im Werk. Er selbst hat nie geheiratet. Seine erste große Liebe, die Schreinermeisterstochter Clara Lechner, war früh verstorben. Im Gedicht „I möchte a Klausner wer’n“ reimt er: „Oft is mir kommen so in Sinn: / I möcht a Klausner wer’n! / Adje, du schöne Welt, fahr hin, / Will nix mehr von dir hör’n! // Wenn aber i dem Maderl so, / So recht in d‘ Aug’n guck, / Da bin i weg – ich woaß net wo – / Dös bringt mi wieda z’ruck!“
Entschieden widerspricht die Ausstellung der möglicherweise da und dort immer noch aufflackernden Einschätzung, Carl Spitzweg sei ein Fürsprecher des kreuzbraven Biedermeiers. Das Gegenteil sei der Fall. „Spitzweg kritisiert das Bürgertum für seine Unbeweglichkeit, für seine Doppelmoral und Prüderie. Er entlarvt wie nebenbei die Janusköpfigkeit einer Gesellschaft, die hinter ihrem schönen Schein braver Lebensführung Heuchelei und Bigotterie versteckt. Dazu verhüllt er seine Gesellschaftskritik stets in amüsanten, humorvollen Anspielungen und spickt seine vermeintlichen Idyllen mit mehrdeutigen Metaphern und Symbolen.“
Der männliche Blick
Gleichwohl lassen die Veranstalter die Kirche im Dorf: „Dennoch bleibt auch für Spitzweg die unangefochtene patriarchale Gesellschaft die Ausgangsposition seines Denkens, da Geschlechterrollen und Sexualität als öffentliche Diskurse erst seit Anfang des 20. Jahrhunderts die Gesellschaft beschäftigen.“ Fern von Gender- und MeToo-Debatten huldigt er „dem weiblichen Körper ganz unverfroren aus der Optik des männlichen Blicks und stellt den Mann gleichsam als Voyeur bloß.“
Der rote Parapluie ist im Übrigen nicht das einzige Liebesmotiv, das sich in den Werken zeigt. Hinzukommen Liebesbrief und Vogelkäfig, Brunnen und Brillen (bei mangelndem Durchblick des Liebesuchenden), Blumen und Kränze (im Biedermeier musste es beim ersten Date ein Strauß weißer Blumen sein). Und Kakteen, nicht zuletzt Agaven. Da artikuliert sich der Schalk im Künstler, der ein gelernter Pharmazeut war: Carl Spitzweg wusste über die Agave, schreibt Andrea Fromm, „dass aus ihrer Wurzel ein Therapeutikum gegen Syphilis gewonnen wird.“
Martin Oehlen
Auf diesem Blog
haben wir 2020 über den Katalog zur einer Spitzweg-Ausstellung im Kunst Museum Winterthur HIER berichtet. Auch dieser Band stammt aus dem Hirmer-Verlag.
Ausstellung
im Museum Georg Schäfer in Schweinfurt bis 16. Juni 2024; Eintrittspreis: 14 Euro, ermäßigt 12 Euro. Anschließend im Kunsthaus Apolda Avantgarde (1. September bis 15. Dezember 2024).
Wolf Eiermann und Andrea Fromm (Hrsg.): „Der rote Schirm – Liebe und Heirat bei Carl Spitzweg“, Hirmer Verlag, 176 Seiten, 34,90 Euro.
