„Heiligemariamuttergottes, a Wunda“: Julia Josts fabelhafter Debütroman „Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht“

Foto: Bücheratlas

Schon der Titel ist ein Kracher. Nicht allein wegen seiner Originalität. Sondern vor allem deshalb, weil da schon so vieles drinsteckt: die Gefahr, die Schärfe, die Abgeschiedenheit und die Mundart, die zuweilen wie eine Tatwaffe wirkt. Und ein Kracher ist auch der Debütroman selbst, den die Theatermacherin Julia Jost veröffentlicht. Ein junges Mädchen hockt im Sommer 1994 unter einem Lastwagen und beobachtet, wie das Wohnhaus der Familie, der Gratschbacher Hof in Kärnten, ausgeräumt wird. Der Umzug bedeutet nicht nur den Abschied von der vertrauten Umgebung und der geliebten Freundin Luca. Auch ist er Anlass, das Leben, wie es sich bisher gezeigt hat, Revue passieren zu lassen. Und das ist ein Blick in den Abgrund. 

Das Jaulen im Schakaltal

Allerdings erzählt Julia Jost von den Schrecknissen der Provinz mit einem bitteren Witz, der seinesgleichen sucht. Das ist komisch bis urkomisch. Auch Kalauer sind möglich: „Meine Kindheit begann unweigerlich nach der Entbindung.“ Es ist offenbar die einzige Möglichkeit, dem Unerträglichen zu begegnen.

Denn im Zentrum der Erzählung steht der Tod des Klassenkameraden Franzi. Er stirbt, angetrieben von seiner Clique, im Jahre 1989 beim Versuch, ein Messer aus einem Brunnen zu bergen. Als die Mutter den toten Sohn in den Armen hält, erschüttert ein Laut ganz Kärnten: „Ein grässliches Jaulen hörte man, bis hinunter in jenes Tal, das man von nun an Schakaltal nannte, und das davor ganz anders geheißen hatte, ganz anders.“

„Eingeborene“ werden zu „Einheimischen“

Das Messer, dem Franzi per Kopfsprung in den Brunnen hinterhergestürzt ist, trägt die Aufschrift „Meine Ehre heißt Treue“. Die Losung der SS ist nur ein Hinweis darauf, dass der Geist des Faschismus weiterhin oder wieder in den Köpfen vieler Menschen im Dorf spukt. Die Großmutter der Erzählerin sagte noch in den 1990er Jahren, so lesen wir es, dass in Kärnten einst 99,83 Prozent für den Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland gestimmt hätten – und sie sagte es „anerkennend“. Zeitlebens habe sie bei jeder Gelegenheit angemerkt, „dass sie aus einer dieser sogenannten Führergemeinden stammt.“    

Der Roman erscheint fünf Jahre, nachdem Julia Jost einen Auszug beim Bachmann-Wettbewerb vorgetragen und dafür den Kelag-Preis erhalten hat. In jener Textfassung war noch von „Eingeborenen“ die Rede. Daraus sind jetzt die „Einheimischen“ geworden – es ist eine Ansammlung erzkonservativer, korrupter und tiefgläubiger Menschen. Als nach einer Schlägerei in der Schulklasse ein Blutfleck auf dem Kurt-Waldheim-Porträt entdeckt wird, ruft die Religionslehrerin aus: „Heiligemariamuttergottes, a Wunda!“ Woraufhin die Lehrkraft „standesgemäß und ohne Verzögerung den Pfarrer Don Marco alarmierte, der mit einer vatikanischen Delegation ins Klassenzimmer prozessierte und das Waldheim-Mirakel fachgerecht prüfte.“

„Die Welt vor dem Urknall“

In dieser dumpfen Welt erlebt die Erzählerin, die wie Julia Jost im Jahre 1982 geboren wurde, ihr „Coming of Age“. Das Mädchen passt mit ihrem Begehren, sich wie ein Junge zu kleiden, keineswegs ins vertraute Rollenprofil. Die Barbiepuppe versenkt sie im Teich. Und beim Raufen mit Freundin Luca werden Küsse ausgetauscht. Als sie sich die Wangen einschäumt und mit dem Kamm ihres Vaters „rasiert“, ist dies auch eine Metapher: „Ich wollte die Schichten meiner Kindheit nacheinander abtragen und so mein erwachsenes und autonomes Selbst, das schon ungeduldig darunter wartete, endlich hervorholen.“

Auch Luca erregt Anstoß – wegen ihrer bosnischen Sprache, wegen ihres Kleidungsstil oder einfach, weil sie mit der Erzählerin befreundet ist. Da erfindet sie das Spiel „Entdecken“: „Wir schauen uns einfach an und wir sagen nichts. Wir dürfen nur schauen. Wie unbeschriebene Tafeln. Wir sind die Welt vor dem Urknall.“ Ein Traum vom Paradies.

Ein schrecklich-schönes Vergnügen

Julia Jost erzählt detailreich, ohne damit jemals zu langweilen, und in mutigen Bildern: ein Gesicht wie „ein Schwertfisch“, eine Umarmung „wie ein Koala-Baby“.  Ihre Sprache ist reich an Spezialitäten wie im Falle der „ungustiösen Narben“ oder der Oma, die „sempert“. Auffällig ist anfangs die Neigung, eine Wendung zu wiederholen, und nicht minder auffällig, dass diese Neigung in der zweiten Hälfte des Romans abebbt. Die Dialekt-Fetzen werden, wo es nötig ist, ins Hochdeutsche übersetzt, was nicht immer elegant wirkt, aber immer sinnvoll ist, denn wer weiß schon, dass „tschopfatzen“ bedeutet, jemanden an den Haaren zu reißen! Überhaupt wird Rücksicht genommen auf die nicht-österreichische Leserschaft: „Sie quetschte mir ein paar Schwarzbeeren oder Heidelbeeren, wie die Deitschn sagen, auf die Wange.“

Gerne würde man konstatieren, dass das dumpf-derber Denken und Handeln eine Eigenart der alpinen Abgeschiedenheit sein könnte. Aber beim Abgleich mit der aktuellen Nachrichtenlage fällt auf, dass der hier ausgestellte Geist kein Sonderfall aus der Provinz ist. Täler wie in den Karawanken, wo „der Karneval der Minderheiten“ bespöttelt wird, gibt es zuhauf. So ist Julia Josts Romandebüt „Der spitzeste Zahn der Karawanken“ ein schrecklicher Spaß und ein schöner Schrecken.

Martin Oehlen

Julia Jost: „Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht“, Suhrkamp, 234 Seiten, 24 Euro. E-Book: 20,99 Euro.

Ein Gedanke zu “„Heiligemariamuttergottes, a Wunda“: Julia Josts fabelhafter Debütroman „Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht“

  1. Pingback: Julia Jost - Wo der spitzeste Zahn der Karwanken in den Himmel hinauf fletscht - Buch-Haltung

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..