
Vier Autorinnen und Autoren aus Köln haben soeben ihre jüngsten Texte im Literaturhaus vorgestellt. Sie alle sind in den Genuss des Dieter-Wellershoff-Stipendiums gekommen. Den Auftritt des Quartetts nehmen wir zum Anlass, uns nach dem Stand der Dinge zu erkundigen. Nach Thomas Empl (HIER), Adrian Kasnitz (HIER) und Gundula Schiffer (HIER) beschließt Tilman Strasser die Fragerunde.
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Eins
Tilman Strasser, worum geht es in Ihrem Text „Gespinst“?
„Gespinst“ erzählt, wie eine Lüge von einem Leben Besitz ergreift. Der Roman besteht aus Briefen, die ein Vater an seine Tochter schreibt. Er erinnert sich darin an die gemeinsame Suche der beiden nach freier Energie – also nach einer Alternative zu Kernkraft, Windkraft, Kohlekraft, wie sie in Verschwörungsmythen immer wieder behauptet wird. Diese Suche endete für den Vater verheerend, er sitzt im Gefängnis. Dort aber verteidigt er mit seinem Rückblick nun noch eine weitere, ungleich größere und gefährlichere Illusion …
Zwei
Wie weit ist das Manuskript, für das Sie das Dieter-Wellershoff-Stipendium erhalten haben, vorangeschritten?
Fertig. Es gibt vier Fassungen, die letzte ist hoffentlich die beste.
Drei
Was verbinden Sie mit dem Werk von Dieter Wellershoff? Gibt es da Leseerfahrungen?
„Literatur, die etwas taugt, ist gefährlich“ – ich mag Texte, die unaufgeregt und konzentriert Risslinien im gesellschaftlichen Porzellan erkunden. Im Sinne dieses Wellershoff-Zitats ist mir, wenig originell, vor allem „Der Liebeswunsch“ in Erinnerung geblieben, als einschüchternd präzise entfaltetes Panorama der Menschlichkeiten. Außerdem hat dort die Kriebelmücke einen ihrer seltenen literarischen Auftritte.
Vier
Sie sind auch als Moderator in der Kölner Literaturszene aktiv – wie vital ist diese Szene?
Sehr! Aus meiner Sicht – seit ich vor etwas mehr als zehn Jahren in die Stadt kam, hat sich die Zahl der Initiativen in der freien Szene vervielfacht, sind Studiengänge und Festivals hinzugekommen, Kooperativen und Netzwerke entstanden und, nicht unwesentlich: Auch das Publikum ist gewachsen und heterogener geworden. Noch mehr Vitalität brächte sicher eine gleichmäßigere Verteilung des Lesungsangebots über den gesamten Stadtraum, eine engere Verzahnung verschiedener Vermittlungskonzepte, eine konsequentere Lobbyarbeit für die Literatur. Aber wenn‘s in den nächsten zehn Jahren so weitergeht, muss sich die Szene Kölns ganz sicher nicht hinter Berlin, Hamburg, München verstecken.
Fünf
Haben Sie einen Wunsch an die Kulturstadt Köln?
Einen, ja: Ich wünsche mir mehr Bewusstsein für die magischen Kräfte der Kultur. Die kann ein Zaubermittel sein, um eine Gesellschaft zusammen zu halten! Sie muss es wollen, klar, und man muss sie dafür auch in die Pflicht nehmen. Aber aktuell zwängt sie sich oft und mit verhängnisvoll viel Spaß und Erfindungsreichtum in prekäre Zwischennutzungen und das wird ihr oft zum Verhängnis. Für nachhaltige Wirkung braucht es Räume, feste und gut ausgestattete Räume mit ordentlichem Budget.
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Auf diesem Blog
gibt es bereits die Statements von Thomas Empl (HIER), Adrian Kasnitz (HIER) und Gundula Schiffer (HIER).
Zur Person
Tilman Strasser, 1984 in München geboren, veröffentlichte zuletzt den Roman „Hasenmeister“ (2015). Außerdem schrieb er das Theaterstück „Der Unbeugsame“ über den Widerstand des Kölner Karnevalisten Karl Küpper, das 2022 uraufgeführt wurde. Als „Kulturkonzepter“ organisiert und moderiert er einschlägige Veranstaltungen
Im Jahre 2020 erhielt er das Dieter-Wellershoff-Stipendium für sein Romanprojekt „Gespinst“. In der Begründung der Jury heißt es: „In seiner Verzweiflung und seinem Wahn, ein Trugbild seiner Tochter am Leben zu halten, verstrickt er sich in alternative Welterklärungen und esoterische Verschwörungstheorien – und versucht, die Existenz freier Energie zu beweisen, was gründlich schiefgeht. Tilman Strassers Text überzeugt durch seine Verbindung von komischen und tragischen Elementen, von persönlichen und globalen Katastrophen – und durch den formal anspruchsvollen Zugriff auf eine komplexe Themenkonstellation.“ Der Jury gehörten an: Sonja Herrmann, Martin Mittelmeier und Martin Oehlen.
Das Stipendium
Das Dieter-Wellershoff-Stipendium wurde 2018 von der Stadt Köln eingeführt. Es wird vom Literaturhaus Köln betreut und unterstützt Autorinnen und Autoren dabei, eine begonnene Arbeit fortzusetzen oder zu vollenden.
Dieter Wellershoff, in dessen Namen das Stipendium vergeben wird, wurde 1925 in Neuss geboren und ist 2018 in Köln gestorben. Der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller war eine Weile einflussreicher Lektor des Verlags Kiepenheuer & Witsch. Er veröffentlichte unter anderem „Der Sieger nimmt alles“ (1983), „Blick auf einen fernen Berg“ (1991) und „Der Ernstfall“ (1995). Der Roman „Der Liebeswunsch“ (2000) gilt als sein bekanntestes Werk.
(M. Oe.)