Der Auftritt der Palästinenserin Sumaya Farhat-Naser und des Israeli Assaf Gavron, Michael Köhlmeiers Novelle für Tochter Paula und Jochen Schmidts Ferienlager – „Ein Buch für die Stadt“ feiert Jubiläum (4)

Die Kölner Lesereihe „Ein Buch für die Stadt“ hatte vor 20 Jahren Premiere. Auf diesem Blog erinnern wir an die ausgewählten Bücher und ihre Autorinnen und Autoren in einer kleinen-schnellen Reihe. Die ersten neun Jahrgänge haben wir bereits vorgestellt – die Links dazu gibt es am Fuße des Artikels. Nun geht es zum nächsten Trio.

Michael Köhlmeier am Gewässer bei Hohenems, das in seinem „Buch für die Stadt“ eine wichtige Rolle spielt – allerdings dort überzogen mit einer Eisdecke. Foto: Bücheratlas

2012

„Thymian und Steine“ von Sumaya Farhat-Naser und „Ein schönes Attentat“ von Assaf Gavron

Wäre das heute möglich? Nach der jüngsten Barbarei der Hamas, welche die zivilisierte Welt schockiert hat? Und angesichts der vielen zivilen Opfer im Gaza-Streifen? Damals jedenfalls war es möglich. Da traten Sumaya Farhat-Naser und Assaf Gavron, die Palästinenserin und der Israeli, gemeinsam in Köln auf. Dabei war die politische Lage auch seinerzeit schon angespannt – aber eben nicht eskaliert. Beim Besuch in Birzeit im Westjordanland, wo Sumaya Farhat-Naser zuhause ist, zeigte sie mir aus ihrem Fenster die einengenden Siedlungen und Checkpoints der Israelis; und bei einer Taxifahrt durch Tel Aviv empfahl der Fahrer die Anschaffung einer Gasmaske, die sich wegen drohender Angriffe empfehle. Vom Frieden war auf den Veranstaltungen in Köln und der Region selbstverständlich immer wieder die Rede. Sumaya Farhat-Naser sprach zudem über „Thymian und Steine“, worin sie ihre Lebensgeschichte erzählt, die ausgerechnet im Jahr 1948 beginnt, als der Staat Israel gegründet wurde. Und Assaf Gavron stellte seinen Roman „Ein schönes Attentat“ vor, der von einem Israeli handelt, der drei Anschläge überlebt, auf diese Weise zu einer nationalen Berühmtheit wird und sich schließlich mit einem Palästinenser anfreundet.  

2013

„Idylle mit ertrinkendem Hund“ von Michael Köhlmeier

Alle Bücher sind persönlich. Das gilt auch für Michael Köhlmeier. Allerdings zielt keines seiner Werke so sehr mitten ins Herz wie „Idylle mit ertrinkendem Hund“ (2008). Eine Novelle mit schmalem Umfang und glühendem Kern. Vordergründig geht es um den winterlichen Besuch eines Lektors bei Michael Köhlmeier und Monika Helfer in Hohenems in Vorarlberg in Österreich. Das zentrale „Ereignis“ des Aufenthalts ist ein Hund, der ins Eis einbricht und gerettet wird. Hintergründig geht es dem Erzähler darum, wie er über den Tod der Tochter Paula schreiben könnte. Er tut es kunstvoll, eindringlich und bewegend, indem er von anderem spricht. Gewidmet ist das Buch unter anderem „unserer lieben Paula“. Paula Köhlmeier, die Tochter, ist vor 20 Jahren am Schlossberg in Hohenems zu Tode gestürzt. Als dann zehn Jahre später „Idylle mit ertrinkendem Hund“ das „Buch für die Stadt“ war, gab es auch eine Lesung aus Paula Köhlmeiers Prosaband „Maramba“. Unvergesslich die „Idylle“, unvergesslich der Lesereigen.

2014

„Schneckenmühle“ von Jochen Schmidt

Ein Funfact zu Anfang: Jochen Schmidt kennt Assaf Gavron vom Fußballplatz! Beide haben schon einige Male gegeneinander gespielt, da sie ihren jeweiligen Autoren-Nationalmannschaften angehören. Aber das nur am Rande. „Schneckenmühle“ heißt nicht nur der Roman, sondern auch das Ferienlager in der DDR, in das Jens im Sommer 1989 zum letzten Mal reist. Erst einmal nicht wegen des Mauerfalls, sondern weil Jens mit seinen 14 Jahren die Altersgrenze erreicht hat. Aber dann ist es doch ein Roman des großen Umbruchs und Aufbruchs. „Es ist etwas, was ich überall beobachte“, sagt Jens, „das Leben wird immer schwieriger und anstrengender.“ Da müsse man nur einmal seine Puzzles mit denen der Mutter vergleichen – „das sind viel mehr Teile, und manchmal bestehen die Bilder fast nur aus Himmel“. Ja, es komme sogar noch schlimmer, verrät der wunderbare Analytiker: „Die meisten Gesellschaftsspiele sind ja nur von 9-99 Jahren, danach darf man gar nicht mehr mitspielen.“ Der Roman ist auch ein literarisches Archiv des DDR-Alltags. Jochen Schmidt erzählt von diesen letzten Ferienlagertagen in Sachsen mit Wärme, Wehmut und Witz. „Schneckenmühle“ ist zuweilen urkomisch – um nicht zu sagen: schmidtkomisch. Hier mal ein deutsch-deutscher Schlagabtausch unter Ferienlagerkindern: „Immerhin gibt es bei uns keine Obdachlosen“ – „Dafür regnet es rein.“

Martin Oehlen

Auf diesem Blog

haben wir die ersten Jahrgänge vom „Buch für die Stadt“ bereits vorgestellt.

Folge 1: Irmgard Keun, Italo Calvino und Haruki Murakami (HIER)

Folge 2: Orhan Pamuk, Rafael Chirbes und Kirsten Boie (HIER)

Folge 3: Jürgen Becker, Norbert Scheuer und Jovan Nikolić (HIER)

Das Buch für die Stadt 2023

ist „Der nasse Fisch“ von Volker Kutscher (Piper Verlag).

Mitwirkende

„Ein Buch für die Stadt“ ist eine Initiative des „Kölner Stadt-Anzeiger“ und des Literaturhauses Köln. Auf Seiten der Kulturinstitution federführend: Jetzt Bettina Fischer, am Anfang Thomas Böhm, zwischendrin Insa Wilke. Und bei der Zeitung: Jetzt Anne Burgmer, am Anfang der Autor dieser Zeilen, zwischendrin Frank Olbert. Neben Literaturhaus und „Kölner Stadt-Anzeiger“ war und ist in der Jury der Kölner Buchhandel vertreten: Ehedem Klaus Bittner und aktuell Hildegund Laaff. Sehr wichtig für diese Initiative ist das Engagement der institutionellen und freien Veranstalter, die sich mit eigenen Programmen einbringen.

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