
Der Sturm ist vorüber, aber das Unheil beginnt. Harriet versteht jedes Wort, das ihre Eltern im Nebenraum sprechen. Eben erst hatten sie sich einen weiteren schlimmen Streit geleistet. Nun sitzen sie in aller Ruhe beisammen und klingen nahezu harmonisch, als sie sich mit der Frage befassen: „Wie wollen wir es denn jetzt machen?“
„Warum willst du nicht Harriet?“
Ja, wie wollen sie die Scheidung in die Tat umsetzen? Und was wird aus ihren Kindern Amelia und Harriet? Fest steht: Jedes Elternteil soll ein Mädchen in das jeweils neue Leben mitnehmen. Doch beide bevorzugen Amelia. „Warum willst du nicht Harriet?“ fragt die Frau. Worauf der Mann entgegnet: „Warum willst du sie nicht.“ Dann hört Harriet ihren Vater sagen: „Wir haben nicht dieselbe Wellenlänge.“
Der Schwede Alex Schulman ist hierzulande schon mit den Romanen „Die Überlebenden“ und „Verbrenn all meine Briefe“ (den wir auf diesem Blog HIER besprochen haben) erfolgreich gewesen. Auch sie handeln von den Traumata und Geheimnissen der Familie. Dass der Autor in diesen Werken seine eigene Kindheit durchpflügt, verhehlt er in keinem Interview. Es ist offenkundig seine Art, die Schrecken der Vergangenheit zu bannen. Dass dabei eine so flüssige und farbige Literatur entsteht, ist das pure Glück.
Sonnenbrand um der Liebe willen
„Endstation Malma“, sein nunmehr sechster Roman, ist eine intensiv-irritierende Geschichte über drei Generationen hinweg. Sie handelt von Verrat, Verlust und Einsamkeit. Und sie zeigt auf, welche Prägungen von der Kindheit bleiben. Das ist bis zum Finale psychologisch fein gesponnen und formal spannend arrangiert.
Harriets Leben ist ein Schrei nach Liebe. Als sie sechs oder sieben Jahre alt war, setzte sie sich eines Tages in die Sonne und holte sich absichtlich einen Sonnenbrand: „Weil ich wollte, dass meine Mutter mich mit Nivea einschmierte, wenn sie nach Hause kam. Wenn ich mir die Haut verbrannte, würde sie mich berühren, das wusste ich.“ Und um die Liebe ihrer Tochter Yana zu gewinnen, überhäuft sie diese mit Süßigkeiten und Junk-Food. Aber zwei Eisbecher auf einmal sind selbst für Yana zuviel.
Als wäre da ein Muster
Oskar hatte sich auf Anhieb in Harriet verguckt. „Er hatte sofort gespürt, dass sie etwas Besonderes war“. Allerdings nahm er die Warnsignale nicht ernst, die sie gleich bei der ersten Begegnung ausgesendet hatte. Die seelischen Verletzungen, die Harriet in ihrer Kindheit erfahren hat, sind nie verheilt. Sie trägt sie immerzu mit sich. Zu Oskar sagt sie: „Sie selbst spüre immer öfter, dass sie die Richtung des Weges, auf den sie gestellt worden sei, nicht ändern könne. Sie sei eine Gefangene der Entscheidungen, die andere für sie getroffen hätten, und übertrage lediglich das Gift an die nächste Generation.“
So wie sich Harriet als Kind die Haare ausgerissen hat, so knabbert ihre Tochter Yana an abgebrannten Streichhölzern. Auch Yana hat gute Ohren. Bei einer Lauschaktion bekommt das Mädchen mit, „wie die Ehe ihrer Eltern zerbrach, denn sie wusste, jetzt taten sie einander so weh, dass es nie wiedergutzumachen war“. Die nächste Familie liegt in Trümmern. Als wäre da ein Muster, dem man nicht entkommt. Die Vergangenheit und die Gegenwart legen gleichsam die Zukunft fest.
Zugfahrt mit Urne
Alles kulminiert in Malma. Es ist der fiktive Ort, zu dem jeder Erzählstrang strebt. Das ist emotional, überraschend, radikal. Gleich mehrere Zugfahrten dorthin erleben wir. Im Jahre 1976 fährt Harriet mit ihrem Vater Bo nach Malma, um eine Urne mit der Asche des Kaninchens „Ninchen“ und zwei Zetteln unter einem jungen Apfelbaum zu begraben. Im Jahre 2001 – der Apfelbaum ist groß und prächtig – graben Harriet und Oskar die Urne aus, öffnen diese und vergraben sie erneut. Schließlich macht sich Yana mit einem Fotoalbum nach Malma auf, um ihrerseits den Inhalt der Urne zu erkunden. Und mehr wollen wir darüber nicht verraten.
Alex Schulman erzählt Harriets Geschichte nicht chronologisch. Vielmehr wechseln neben den Perspektiven auch die Zeitebenen von Kapitel zu Kapitel. Mal schauen wir mit der jungen Harriet auf die Welt, dann mit der erwachsenen Harriet. Mal sind wir mit Harriets Ehemann Oskar unterwegs, mal mit ihrer Tochter Yana.
Ein Reigen der Versehrten
Das ist ein anspruchsvolles Tableau. Doch lassen sich für die Dekonstruktion des Zeitstrahls durchaus Gründe finden. Vor allem spiegelt sich darin die zersplitterte Existenz der Hauptfigur. Auch zeigt sich, wie dicht die Lebensphasen miteinander verwoben sind. Zudem entwickeln sich auf diese Weise Cliffhanger, die der Spannung zuträglich sind. Schließlich animiert das Mosaik, das Steinchen für Steinchen entsteht, zu einer hohen Leseaufmerksamkeit.
„Endstation Malma“ ist ein schmerzhaft schöner Roman. Es ist ein Reigen der Versehrten und Beziehungsgestörten, in dessen Zentrum Harriet steht. Doch auch Oskar und Yana erfahren Alex Schulmans Aufmerksamkeit. Was von Harriets Eltern zu halten ist, erfahren wir allerdings nur aus der Perspektive der Tochter. Kann man ihr vollends trauen?
„You are not alone“
In Malma auch erfährt Harriet, was es mit der Tätowierung auf sich hat, die der Vater auf der Schulter trägt: „You are not alone“. Das ist eine Zeile aus David Bowies „Rock ‘n‘ Roll Suicide“, die dem Roman vorangestellt ist. Der Vater erklärt der jungen Harriet, dass er immer den Eindruck gehabt habe, der Sänger habe sich mit diesem Song an ihn gerichtet. Er solle keine Angst haben, denn er sei nicht allein, und er sei wunderbar.
Diesen Satz vergisst Harriet, „die Verschmähte“, nie mehr. Erwachsen geworden, sagt sie ihn sich manchmal vor: „Du bist nicht allein.“ Meistens dann, wenn sie allein ist.
Martin Oehlen
Auf diesem Blog
haben wir Alex Schulmans Roman „Verbrenn all meine Briefe“ HIER besprochen.
Alex Schulman: „Endstation Malma“, dt. von Hanna Granz, dtv, 316 Seiten, 24 Euro. E-Book: 18,99 Euro.
