
Wut ist das bestimmende Lebensgefühl von Alex Schulman. Wut, wenn die Kinder nicht so funktionieren, wie er will. Wenn es zum Streit mit Ehefrau Amanda kommt. Wut auf sich selber und den Rest der Welt. „Unterschwellig eskaliert es immer weiter“, muss er sich eingestehen. Und sich der Erkenntnis stellen, „dass ich etwas tun muss, bevor alles um mich herum zerbricht und verschwindet“.
Therapie und Spurensuche
Alex Schulman, Enkel des schwedischen Schriftstellers Sven Stolpe, macht sich auf die Suche nach den Wurzeln seiner Wut. Er beginnt eine Therapie und schreibt ein Buch über seine Spurensuche, die ihn weit zurückführt in die Vergangenheit der Familie Stolpe.
„Verbrenn all meine Briefe“ ist bereits der dritte Roman, in dem sich einer der bekanntesten schwedischen Gegenwartsautoren mit seiner Familiengeschichte auseinandersetzt. 2016 erschien Alex Schulmans Roman „Forget me“ über seine alkoholkranke Mutter, die verstorbene Fernsehmoderatorin Lisette Schulman, geborene Stolpe. 2020 folgte der autobiografisch gefärbte Roman „Die Überlebenden“ über drei Brüder, die ein Leben lang vergeblich um die Liebe ihrer Mutter gebuhlt haben und sich jetzt wiedertreffen, um ihre Asche zu verstreuen.
Keine Feier ohne Streit
„Verbrenn all meine Briefe“, 2018 im Original erschienen und erst jetzt ins Deutsche übersetzt, liefert den Schlüssel zu dem desaströsen Beziehungsgeflecht, welches das Leben der Familie Stolpe seit drei Generationen bestimmt. Mit Schaudern erinnert sich der Autor an gelegentliche Familientreffen, die stets im Streit endeten. „Immer war irgendetwas Unverzeihliches geschehen, das man nie vergessen würde. Und so brach der Kontakt für ein paar Jahre ab, aber dann kehrte sich etwas um, und plötzlich sollten wir zusammen Urlaub machen. Cousins und Cousinen wurden zusammengesteckt, Fremde, die miteinander spielen sollten und wieder auseinandergerissen wurden, sobald der Streit neu aufflammte.“
Schritt für Schritt nähert sich Alex Schulman dem Zentrum dieser aggressiven, dysfunktionalen Familie, zu der auch er gehört. Und deren emotionalen Defizite er an seine drei Kinder weiterzugeben droht. „Denn wenn die Wut nicht meine ist, wenn ich nur ein Wirtstier dafür bin, vorübergehend für eine bestimmte Phase in der Familie, dann wird sie anschließend weitergegeben an die nächste Generation.“
Die offene Wunde des Großvaters
Die Werke des verstorbenen Großvaters, mehr als 100 an der Zahl, bringen ihn schließlich auf die richtige Spur. Sven Stolpe, der anerkannte Schriftsteller, Übersetzer und Journalist, verarbeitet darin wieder und wieder ein lebensbestimmendes Trauma, das seinen Ursprung im Sommer 1932 hat. „Sven Stolpes literarisches Werk ist eine offene Wunde“, erkennt der Enkel. Es zu literarisieren, „war seine Art, das Trauma zu verarbeiten“ und sich davon zu befreien, ohne dass es ihm gelungen sei.
Zunehmend werden Erinnerungen an Besuche bei den Großeltern wach. Wie der Großvater in der ersten Etage mit dem Stock gegen die Heizung hämmerte, wenn er etwas von Großmutter Karin wollte. Wie er die zarte alte Frau demütigte, wann immer sich eine Gelegenheit dazu ergab. „Ich erinnere mich an ihre ständige Unterwürfigkeit, ihre Angst vor seiner Wut. Sein Gebrüll, das sie geradezu physisch lähmte. Seine Art, sie vor anderen zu demütigen.“
Liebe statt Jähzorn
Doch was ist in diesem Sommer 1932 geschehen? Auch darauf findet Alex Schuman schließlich eine Antwort. Die Großmutter, damals eine junge Frau von 25 Jahren, hat den Großvater betrogen – eine jäh aufflammende Liebe zu einem vier Jahre jüngeren Mann, der genau das Gegenteil ist von dem jähzornigen Egomanen, den die Übersetzerin Karin Stolpe ein Jahr zuvor geheiratet hat.
Die Kapitel, in denen Alex Schulman von jenen schicksalhaften zehn Tagen im Sommer 1932 erzählt, gehören zu den am meisten berührenden Passagen in diesem kunstvoll komponierten Familienroman. Behutsam schildert er die Ängste und das wachsende Selbstbewusstsein Karins, ihre Entschlossenheit, ihrem Leben eine andere Richtung zu geben. Weg von diesem Sven Stolpe, der sie mit seinem Narzissmus und seinen unerträglichen Launen quält. Der sie eine liederliche Person nennt und wie eine Sklavin behandelt.
Sehnsucht nach dem Ort der Träume
Doch Karin schafft den Absprung nicht. Zu groß ist die Angst vor dem gewalttätigen Ehemann, der bereit ist, sie und sich selber zu töten, sollte sie ihn verlassen. So harrt sie in einer lieblosen Ehe aus und lässt zu, dass Sven Stolpes unbändige Wut über ihren Verrat ihre Kinder und Kindeskinder vergiftet. „Das Land, das nicht ist, ist die andere Seite der Wirklichkeit“, erzählt sie dem heranwachsenden Enkel einmal. „Es ist ein Ort der Träume – es ist die Summe all dessen, was hätte passieren können aber nie passiert ist. Und für mich ist das Land, das nicht ist, oft ein schönerer Ort gewesen als die Wirklichkeit. Und manchmal sehne ich mich nach dem Land, das nicht ist. Ich sehne mich nach alldem, was nie geschehen ist.“
So ist „Verbrenn all meine Briefe“ nicht nur ein ergreifender Familienroman, sondern auch das Porträt einer verzweifelten jungen Frau, die nur eine Möglichkeit sieht, um zu überleben. Sie fügt sich. Alex Schulman geht einen anderen Weg. Er schreibt. Wie schon der Großvater. Und er hofft, dass er anders als Sven Stolpe seine Traumata schreibend bewältigt. Schon seiner Kinder wegen.
Petra Pluwatsch
Alex Schulman: „Verbrenn all meine Briefe“, dt. von Hanna Granz, dtv, 300 Seiten, 23 Euro. E-Book: 18,99 Euro.
