Literatur am Dom: Dincer Gücyeters „Unser Deutschlandmärchen“, Angela Steideles „Aufklärung“ und Jürgen Beckers „Nachspielzeit“ in Altenberg

Dincer Gücyeter ist startklar vor seiner Lesung. Foto: Bücheratlas

Plötzlich nichts als Sonnenschein. Geradezu märchenhaft. Und mittendrin: Dincer Gücyeter. Im vergangenen Jahr erhielt der Autor, Verleger und gelegentliche Gabelstaplerfahrer aus Nettetal am Niederrhein den Peter-Huchel-Preis, den bedeutendsten Lyrik-Preis in Deutschland, für „Mein Prinz, ich bin das Ghetto“. In diesem Jahr folgte der Preis der Leipziger Buchmesse für seinen Debütroman „Unser Deutschlandmärchen“ (den wir auf diesem Blog HIER vorgestellt haben). Und zuletzt kam noch der Kurt-Wolff-Förderpreis für seinen Verlag Elif hinzu, der sich auf Lyrik spezialisiert hat. Wie es ihm geht, kann man sich denken: „Es ist schön. Ich bin glücklich.“

„Scharf darauf, hier zu lesen“

Viel mehr möchte Dincer Gücyeter allerdings nicht zur Preiswelle sagen, als er bei „Literatur am Dom“ in Altenberg auftritt. Das Open-Air-Festival im sommerlichen Kräutergarten des Küchenhofs, das die Literaturagentin Karin Graf und der Literaturkritiker Denis Scheck kuratieren, findet bereits zum zweiten Mal statt. Das sei nun also eine Tradition, sagte Sema Sayn-Wittgenstein als Vorsitzende des zuständigen Vereins. Schon gebe es Verabredungen für das nächste Jahr. „Die Autorinnen und Autoren sind scharf darauf, hier zu lesen.“

Doch erst einmal ging es darum, den aktuellen Jahrgang zu eröffnen. Was nicht einfach war. Denn „in letzter Minute“, sagte Sema Sayn-Wittgenstein, habe Jürgen Becker seinen Auftritt aus gesundheitlichen Gründen absagen müssen. Das war umso bedauerlicher, da der 90 Jahre alte Büchnerpreisträger einen Band mit neuen Journalgedichten abgeschlossen hat. Fixiert auf 87 Manuskriptseiten. Die Texte sollen demnächst unter dem Titel „Nachspielzeit“ im Suhrkamp Verlag erscheinen.

„Friedliches Frühstück“

Joachim Sartorius, von dem in diesem Jahr „Die Versuchung von Syrakus“ erschienen ist, und Sabine Küchler lasen einige der Gedichte, die „noch warm“ aus der Schreibküche kamen. Auch vermittelten sie im Gespräch anschaulich die große Kunst ihres Kollegen aus dem rechtsrheinischen Köln. Dazu zählen sie die in Variationen wiederkehrenden Motive (Scheune, Apfel, Krieg etc.), den soghaften Sound und die Erfahrungsintensität: „Gestern kam keine Zeitung / friedliches Frühstück.“

Eine Weile habe Jürgen Becker nicht mehr schreiben können, sagt Joachim Sartorius. Der monumentale Band „Gesammelte Gedichte 1971-2022“, der im vergangenen Jahr herausgekommen ist (und der auf diesem Blog im Gespräch mit dem Autor HIER vorgestellt wird), habe ihm Angst gemacht. Da hat ihn offenbar der Eindruck geplagt, das Spiel sei nun vorbei. Aber nichts da! Nun also die „Nachspielzeit“. Der Titel klingt durchaus nach Alter und Endlichkeit. Aber dass in der Nachspielzeit noch alles möglich ist, ist dem Fußballkenner Jürgen Becker gewiss vertraut.

Sabine Küchler und Joachim Sartorius im Gespräch über Jürgen Becker Foto: Bücheratlas

„Kleiner pummeliger Eunuch im Harem“

Dem Publikum, das für Jürgen Becker angereist war („Ich komme extra aus Heidelberg!“, rief einer aus), wurde zum Trost der Besuch der nachfolgenden Veranstaltung mit Dincer Gücyeter ermöglicht. Und das haben gewiss alle zu schätzen gewusst. Denn der Autor, dem aktuell sämtliche Veranstaltungstüren offenstehen, las nicht nur aus seinen beiden mit Auszeichnungen dekorierten Werken, dem „Prinz“ und dem „Deutschlandmärchen“ (das wir auf diesem Blog HIER vorgestellt haben). Auch beantwortete er die Fragen mit einer solchen Lust und Frische, als hörte er sie zum ersten Mal.

So erzählte er von seiner Kindheit unter den Frauen aus Familie und Nachbarschaft, deren Geschichten er als „kleiner pummeliger Eunuch im Harem“ vernommen habe. Wie er Schlagertexte auf Bierdeckel schrieb. Wie er Trost fand (und immer noch findet) in den Gedichten von Walt Whitman. Wie ihn die Theaterstücke von Tennessee Williams gelehrt haben, „dass Pathos sehr schön klingen kann.“

„Ich wusste, es gibt eine andere Welt“

Und wie er mit der Familientradition brach und sich für die Kunst entschieden hat, konkret für das Theater und die Literatur. Er habe nicht weiterleben wollen wie die Eltern-Generation: „Ich wusste, es gibt eine andere Welt. Ich war damals verliebt in Hildegard Knef. Ich wollte unbedingt nach Hamburg fahren, um mit Hildegard Knef etwas zu unternehmen.“

Als Schriftsteller habe er allerdings erst spät, etwa mit 30 Jahren, seine Stimme gefunden. Ein früher Gedichtband aus dem Jahre 2011 sei ihm so peinlich gewesen, dass er „alle“ Exemplare bei Amazon bestellt und anschließend vernichtet habe.

Ein LKW mit Knoblauchwurst

Dass Dincer Gücyeter dann noch den Elif-Verlag gegründet hat, ist auf eine Ausnahmesituation zurückzuführen. Als einige Kolleginnen und Kollegen beklagten, dass sie keinen Verlag für ihre Gedichte finden, kündigte er – „ich war ein bisschen besoffen“ – kurzentschlossen an, am nächsten Tag einen eigenen Verlag zu gründen. Ein Mann, ein Wort. Dabei habe das Projekt zunächst so aussichtlos gewirkt wie das seines Vaters, der einmal ein Geschäft mit Knoblauchwurst gewittert hatte. Als dann der LKW aus der Türkei am Niederrhein eintraf, wollte niemand die Wurst kaufen – und nach kurzer Zeit war sie dann auch verdorben.

Mit viel Blauäugigkeit habe er sich damals in die Verlagsarbeit gestürzt. Davon zeugt sein erster Stand auf der Leipziger Buchmesse im Jahre 2014. Nichtsahnend habe er den gebucht. Um dann vor Ort zu bemerken, dass er „zwischen zwei Anbietern von Pornoheften“ platziert worden war. Einen einzigen Gedichtband habe er auf der Messe verkaufen können – einen von Anke Glasmacher für acht Euro mit Studentenrabatt. Aber die Zeiten ändern sich. Und so ist Dincer Gücyeter in diesen Tagen vor allem eines – glücklich.

Der Titel ist der erste Scherz

Der erste Festivalabend endete mit einem furiosen Schlussakkord. Den setzte nicht das Domgeläut, das zuvor einmal für eine kurze Zwangspause gesorgt hatte, sondern Angela Steidele mit „Aufklärung. Ein Roman“ (eine Besprechung gibt es HIER). Der Titel, meinte die Autorin zu Beginn, sei schon „der erste Scherz“. Und das ist nicht zuviel gesagt. Denn der famose Roman ist vieles – und nicht zuletzt amüsant und gewitzt.

In ihrem Werk lässt die Autorin das Leipzig des 18. Jahrhunderts aufleben, als die Stadt ein Hotspot der Musik und der Aufklärung war. Dafür stehen die Lichtgestalten Johann Sebastian Bach und Johann Christof Gottsched. Allerdings spielten auch Frauen eine große Rolle. Im Roman sind es vor allem Dorothea Bach und Luise Gottsched.

Angela Steidele hat einen freien Tisch in Altenberg gefunden. Foto: Bücheratlas

Endlich ein freier Tisch

Angela Steidele zuzuhören, ist das pure Vergnügen. Dies liegt zum einen daran, dass sie die Materie, in diesem Fall die Musik und die Philosophie der Zeit, tief durchdrungen hat und hervorragend zu erläutern versteht. Zum anderen präsentiert sie ihre Lesepassagen als vielstimmiges Hörstück: mal sächselnd und mal singend, mal augenrollend und mal mit ausgestreckten Armen. Moderatorin Sabine Küchler, die bestens präpariert alle drei Veranstaltungen des Eröffnungsabends begleitet hat, fasste es völlig korrekt zusammen: „Ein Ereignis.“

Sie sei nur Schriftstellerin geworden, sagt die Chorsängerin Angela Steidele, weil die Stimme nicht für eine Karriere als Gesangssolistin gereicht habe. Das ist ein Glück für alle Leserinnen und alle Leser. Und vielleicht sogar für die Künstlerin selbst. Immerhin hat sie nun Aendlich einmal einen freien Tisch im Küchenhof bekommen, was ihr schon einige Male ob des Andrangs verwehrt gewesen sei. Und auf dem Tisch, an dem sie sprach und las, lag auch noch eine blendend weiße Decke. Man müsste Literatur schreiben können.

Martin Oehlen

Auf diesem Blog

haben wir einige Bücher der hier erwähnten Personen vorgestellt.

Jürgen Beckers „Gesammelte Gedichte“ und sein bislang letzter Gedichtband und ein Gespräch mit dem Autor finden sich HIER.

Dincer Gücyeters „Unser Deutschlandmärchen“ gibt es HIER.

Angela Steideles „Aufklärung. Ein Roman“ ist HIER platziert.

Weitere Beiträge und Bücher lassen sich leicht über die Suchmaske ansteuern.

Das Festival „Literatur am Dom“

in Altenberg endet an diesem Sonntagabend, 18. Juni. Mehr Informationen: literatur-am-dom.de

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