Das Beste, was Jess Kidd bislang veröffentlicht hat : „Die Insel der Unschuldigen“ erzählt von den Kindern Mayken und Gill und dem Untergang der „Batavia“

Meerblick an der Küste Westaustraliens. Irgendwo da draußen liegt Beacon Island, wohin sich Besatzung und Passagiere der „Batavia“ gerettet haben, nachdem das Schiff ein Riff gerammt hatte. Foto: Bücheratlas

Zwei Kinder stranden unabhängig voneinander auf einer abgelegenen Insel im Indischen Ozean. Zwischen ihnen liegen mehr als drei Jahrhunderte, und begegnen werden sich Gil Hurley und Mayken van der Heuvel nicht. Was einem kleinen Wunder gleichkommt, stammt der Roman „Die Insel der Unschuldigen“ doch aus der Feder von Jess Kidd. Und die hat bekanntlich ein Faible für Geister und Anderswelten, in denen die Regeln von Zeit und Raum außer Kraft gesetzt sind. Sechs Bücher – fantastisch-schräge Geschichten über Gespenster, Wasserwesen und deren Rolle in der Welt der Lebenden – hat die englische Autorin seit 2016 veröffentlicht. Vier davon sind im DuMont Buchverlag in deutscher Übersetzung erschienen.

Die Reise nach Niederländisch-Indien

„Die Insel der Unschuldigen“, unter dem Titel „The Nightship“ 2022 in England auf den Markt gekommen, erzählt eine berührende Geschichte von Einsamkeit, Angst und kindlichem Mut. Die neunjährige Mayken, ein zartes Mädchen mit „bleicher Haut, winzigen weißen Zähnen und feinem, hellen Haar“, kommt 1619 in Holland zur Welt.

Nach dem Tod der Mutter wird sie im Jahr 1628 mit ihrer betagten Kinderfrau Imke zum Vater geschickt, einem reichen Plantagenbesitzer in Niederländisch-Indien, dem heutigen Indonesien. Die – historisch verbriefte – Reise mit der „Batavia“, einem Handelsschiff der Niederländischen Ostindien-Kompanie, dauert mehr als ein halbes Jahr und wird mit dem Tod hunderter Menschen enden.

Schuld ist der Bullebak

Imke wird bereits kurz nach Beginn der Reise krank – ein entzündeter Zeh, der wohl eine Blutvergiftung nach sich zieht, fesselt sie an ihre Kabine. Dazu kommt eine heftige Seekrankheit, die die alte Kinderfrau zu einem Schatten ihrer selbst macht. Mayken nutzt die Zeit, um das Schiff bis tief hinunter in seinen Bauch zu erkunden. Ihren flinken blauen Augen entgeht nichts, und allmählich kriecht die Angst in Mayken hoch.

Sie spürt die Spannungen zwischen Kapitän Ariaen Jakobsz und dem reichen Kaufmann Francisco Pelsaert, die zu einer Katastrophe führen werden, und beobachtet die wachsende Paranoia unter den Passagieren, die viele Monate auf engstem Raum miteinander verbringen müssen. Schon bald hat sie den Verursacher der zahlreichen Krankheiten an Bord, der Missstimmung und der steigenden Aggressivität unter den Seeleuten ausgemacht: Schuld daran ist der Bullebak, ein fischähnliches Monster, das in den Tiefen der „Batavia“ haust. Mayken beschließt, das Ungeheuer zu fangen.

Terror auf Beacon Island

361 Jahre später ist von der „Batavia“ kaum mehr etwas übrig. In einer mondlosen Nacht ist sie 1628 vor der westaustralischen Küste auf ein Riff aufgelaufen und gesunken. Mehr als 200 Passagiere, darunter auch Mayken, konnten sich damals auf Beacon Island retten, doch wenige Wochen später kam es auf der abgelegenen Koralleninsel zur finalen Katastrophe.

Die Mannschaft tötete rund 120 Menschen, so lesen wir es, um die wenigen Wasser- und Essensvorräte nicht teilen zu müssen. Einige Gräber im Sand und zahlreiche Fundstücke, die auf der Insel ausgegraben wurden, zeugen von dem Massaker, das seinesgleichen sucht in der Geschichte der christlichen Seefahrt.        

„Miss Mary“ spukt in der Nacht

1989 leben nur einige Fischer und Archäologen auf Beacon Island oder „Batavia’s Graveland“. Heute sind Fischerhütten abgerissen und die Insel ist zu einer archäologischen Zone erklärt worden, die man mit geführten Touren besuchen kann. Nachts, so erzählen sich die wenigen Bewohner, soll der Geist eines kleinen Mädchens auf der Insel spuken, und nicht nur der neunjährige Gill Hurley fürchtet eine Begegnung mit „Miss Mary“.

Gill ist nach dem Tod seiner drogensüchtigen Mutter zum Großvater nach Beacon Island geschickt worden, ein traumatisiertes Kind mit einer Vorliebe für samtweiche Stoffe und dem Ruf, eine „Schwuchtel“ zu sein. Der zarte Junge mit den langen roten Haaren wird gehänselt und brutal zusammengeschlagen. Selbst der Großvater, auch er wenig gelitten auf der Insel, begegnet seinem Enkel zunächst mit Zurückhaltung.

Die Plage der diffusen Ängste

Gill ist mindestens so einsam, wie Mayken es damals war, und wie das kleine Mädchen sucht er nach Erklärungen für seine diffusen Ängste, die jenseits des Rationalen liegen. Mit der Mutter führte er ein unstetes Leben. Ihren Tod in einer schäbigen Bude irgendwo am Ende einer abgelegenen Straße verschwieg er tagelang, bis die Fliegenschwärme an den Fenstern des Apartments ihn verrieten.     

Jess Kidd ist mit „Die Insel der Unschuldigen“ ein ebenso kluges wie spannendes Buch über Vorurteile, kindliche Ängste und deren Bewältigung gelungen. Besonders anrührend: die allmähliche Annäherung zwischen Gill und seinem Großvater, der fürchtet, nach dem Tod der Tochter nun auch den Enkel zu verlieren. Jess Kidds sechstes Buch ist zweifellos ihr bestes, obwohl – oder vielleicht weil – es ganz ohne Gespenster auskommt. Dass es gut und stellenweise witzig geschrieben ist, braucht man bei dieser Autorin nicht extra zu erwähnen.

Petra Pluwatsch

Auf diesem Blog

haben wir von Jess Kidd den Roman „Die Ewigkeit in einem Glas“ HIER vorgestellt.

Jess Kidd: „Die Insel der Unschuldigen“, dt. von Werner Löcher-Lawrence, DuMont, 410 Seiten, 25 Euro. E-Book: 9,99 Euro. 

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