„In der Feuerkette der Epoche“: Friederike Heimann über die Dichterin Gertrud Kolmar, die vor 80 Jahren in Auschwitz ermordet wurde

Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin. In nächster Nähe befindet sich die Gertrud-Kolmar-Straße. Foto: Bücheratlas

Gertrud Kolmars Gedicht „Die Dichterin“ beginnt mit einer Ansprache an die Leserinnen und Leser: „Du hältst mich in den Händen ganz und gar. // Mein Herz wie eines kleinen Vogels schlägt / In deiner Faust. Der du dies liest, gib acht; / Denn sieh, du blätterst einen Menschen um.“ Die Verse stammen aus dem Band „Die Frau und die Tiere“, der 1938 im Jüdischen Buchverlag Erwin Löwe veröffentlicht wurde. Wenige Wochen nach dem Erscheinen wurde die Auflage von den Nazis eingestampft.

Zwangseinweisung ins „Judenhaus“

Wer im Leben dieser Schriftstellerin „blättert“, kommt aus dem Schrecken so schnell nicht heraus. Gertrud Kolmar wurde 1894 in Berlin als Tochter des jüdischen Rechtsanwaltes Ludwig Chodziesner (1861–1943) und seiner Ehefrau Elise (1872–1930) geboren. Im Jahre 1917 erschien ihr erster Gedichtband mit dem schlichten Titel „Gedichte“ und unter dem Pseudonym Gertrud Kolmar.  1934 folgte „Preußische Wappen“ und vier Jahre später wie schon erwähnt „Die Frau und die Tiere“ – diesen letzten Band durfte sie nur unter ihrem Familiennamen Chodziesner herausbringen.

Nach der Machtübernahme der Nazis im Jahre 1933 gelang den jüngeren Geschwistern Georg und Hilde die Flucht aus Deutschland. Gertrud Kolmar hingegen blieb bei ihrem Vater. Das Haus im Ort Finkenkrug, westlich der Hauptstadt gelegen, mussten sie nach der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 verkaufen. Vater und Tochter wurden gezwungen, in ein „Judenhaus“ in Berlin-Schöneberg umziehen.

Theresienstadt und Auschwitz

Ludwig Chodziesner wurde im September 1942 in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Er kam dort im Februar 1943 ums Leben. Gertrud Kolmar wurde am 2. März 1943 in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Vermutlich schon bei der Ankunft am folgenden Tag wurde sie in der Gaskammer ermordet. Doch sie ist nicht vergessen. Und die Gertrud-Kolmar-Straße, die heute in Berlin an die Dichterin erinnert, verläuft genau dort, wo einst der „Führerbunker“ stand.

Von Vita und Werk der Gertrud Kolmar handelt nun Friederike Heimann. Ihr  Buch „In der Feuerkette der Epoche – Über Gertrud Kolmar“ erscheint an diesem Montag, 80 Jahre nach dem Tod der Schriftstellerin, im Jüdischen Verlag.

„Widerstandsgestus“ bis in die letzten Briefe

Darin verweist Friederike Heimann auf „Brüche und Brüchigkeiten“ im Werk von Gertrud Kolmar, die nicht nur auf die brutalen Zeitumstände, auf Holocaust und Weltkriege zurückzuführen seien. Auch stehen die Texte ihrer Ansicht nach „für ein jüdisches und zugleich weibliches Schreiben“. Friederike Heimann sieht darin eine hohe Aktualität: „Insofern kann Kolmar, trotz aller Konventionalität ihrer Dichtungen, in einigen, entscheidenden Aspekten bereits als eine hellsichtige Vorläuferin eines modernen, postmigrantischen Denkens angesehen werden.“

In ihrer biografischen Erzählung springt Friederike Heimann auch mal vor und zurück im Leben der Dichterin. Früh hebt sie den „Widerstandsgestus“ hervor, den Gertrud Kolmar bis in ihre letzten Briefe aufrechterhalten habe: „Als würde sie bei zunehmender Finsternis umso entschiedener noch neue Lichtfunken entzünden wollen.“

Arendt und Benjamin

Was irritiert: Friederike Heimann betont häufig ihre persönlichen Empfindungen bei der Lektüre und bei der Recherche. Da erläutert sie „die Trostlosigkeit, die mich ergriffen hatte“, „fühlte ich plötzlich eine seltene Verbundenheit“, „kamen mir in diesem Moment wie von selbst jene Zeilen“ in den Sinn oder verrät sie, woran sie bei einer Briefstelle „unwillkürlich“ denken musste. Hätte sie sich ein wenig mehr zurückgenommen, wäre es kein Schaden gewesen, denn nicht ihren Befindlichkeiten gilt das Interesse.

Intensiv widmet sich die Biografin einzelnen Gedichten. Diese gleicht sie ab mit Lebenszeugnissen der Schriftstellerin, die allerdings nicht so zahlreich sind. Oft muss ein „vielleicht“ in die Deutungsversuche eingefügt werden. Und einige Zeitgenossen ergänzen das Bild. Da ist von Walter Benjamin die Rede, einem Cousin der Dichterin, von Victor Klemperer, Paul Celan oder von Hannah Arendt (aus einem ihrer Werke ist der Buchtitel entlehnt).

„Fühlten nur, was sie wollten“

Gertrud Kolmars Gedichte sind von hoher Expressivität, oft packend, mal verklärt und auch politisch wie im Anti-Kriegs-Gedicht „Der 9. November 1918“. Zwei der neun Strophen, die wohl 1933 verfasst worden sind, gehen so:

Sie pflanzten die Gärten voll Kreuze und säten die Äcker voll Schüsse. / Doch die Sonne blieb ewiglich erstrahlend über dem Morden, / Und »Immerdar« sprachen die Berge, und »Überall« sangen die Flüsse; / Der Feind schien ganz verwelkt und fast zum Menschen geworden.

Sie stampften in seinem Land und wussten nicht, was sie da sollten. / Sie schickten Kugeln aus und fragten nicht, ob sie trafen. / Sie dachten selten mehr und fühlten nur, was sie wollten: / Die Suppe auf eigenem Tisch und ein Weib und ein Bett zum Schlafen.“

Und immer wieder sind Getrud Kolmars Verse anrührend. Nicht nur, weil man die Verfolgung und Ermordung mitliest. Aber eben auch deshalb. Friederike Heimann zitiert sowohl zu Beginn als auch ganz am Ende ihrer Biografie das Gedicht „Garten im Sommer“. Es sind naturselige Verse, in die die Vergänglichkeit eingewoben ist: „Gar nichts anderes war’s; kein Vogel, kein Falter flog. / Nur ein gilbendes Blatt zitterte in den umsponnenen Weiher, ich sah es.“

Martin Oehlen

Friederike Heimann: „In der Feuerkette der Epoche – Über Gertrud Kolmar“, Jüdischer Verlag, 464 Seiten, 28 Euro. E-Book: 23,99 Euro.

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