
Der Autor sieht ein wenig müde aus. Mit gutem Grund. Am Vorabend die Lesung auf der lit.Cologne in Köln. Fünf Tage zuvor die Verleihung des „Libraries Scripter Award“ in Los Angeles für seine Mitarbeit an der TV-Serie „Slow Horses“. „Ich war so kurz in den USA, dass ich kaum Zeit für einen Jetlag hatte“, sagt Mick Herron und ordert zum Frühstück einen Kaffee. „Schwarz, bitte.“ Und ja, Kaffee. Keinen Tee. „Tee trinke ich nicht.“ Obwohl er aus Newcastle-upon-Tyne im Nordosten Englands stammt und seine hinreißenden Spionage-Thriller, über die wir reden wollen, so unterkühlt britisch sind wie überhaupt nur möglich.
Ausgemusterte Agenten sitzen ihre Zeit ab
60 Jahre alt wird Mick Herron in diesem Jahr, ein zurückhaltender Mann mit kurzen dunklen Haaren, der bis vor wenigen Jahren als Korrektor bei einer juristischen Fachzeitschrift arbeitete. Deutschen Leserinnen und Lesern ist er seit 2018 bekannt, als der Diogenes Verlag den ersten Band seiner Jackson-Lamb-Serie in der deutschen Übersetzung von Stefanie Schäfer auf den Markt brachte: „Slow Horses“. Was in etwa „lahme Gäule“ bedeutet. Und genau das sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Jackson Lamb. Lahme Gäule, genauer: ausgemusterte Spione des britischen Inlandsgeheimdienst MI 5, die in einem schäbigen Büro in der Londoner Aldersgate Street ihre Zeit absitzen.
Im Slough House – was sich am besten mit „versiffte Bude“ übersetzen lässt – versammeln sich Trinker, Loser und Psychopathen. Motto der maroden Truppe: „Rette deinen Arsch“ und schieb die Schuld einem anderen zu, erst recht, wenn du selbst für den Schlamassel verantwortlich bist.
„London Rules“ heißt das aktuelle Angebot
Einige seiner Figuren seien angelehnt an Menschen, die er kenne, sagt Mick Herron. Aber direkte Vorbilder für Jackson Lamb, Louisa, River und die anderen gebe es nicht.
Mit „London Rules“ ist im vergangenen Jahr die fünfte Folge der mittlerweile auf acht Bände angewachsenen Serie in deutscher Übersetzung erschienen. Darin überfällt eine Söldnertruppe ein abgelegenes englisches Dorf und erschießt mehrere Bewohner. Kurz darauf fliegt in London ein Pinguingehege in die Luft. Auch dabei gibt es Tote. Als nächstes auf der Liste der Terroristen: ein Attentat auf einen britischen Politiker.
Mick Jagger schrieb die Titelmusik
Offensichtlich folgen die Täter einem Drehbuch des MI 5, das einige Jahre zuvor zur Destabilisierung von Dritte-Welt-Ländern entwickelt wurde. Aus der Versenkung geholt hat es womöglich Roderick Ho, der Oberdepp der Slow Horses. Was nicht nur beim MI 5 einige Fragen aufwirft.
Mick Herron punktet auch dieses Mal mit brillanten Dialogen und einem so tintenschwarzen Humor, dass die Sprüche der Addams Family dagegen wie zarte Liebesgedichte klingen. In England fand die 2010 gestartete Reihe zunächst wenig Beachtung. Inzwischen gehört Mick Herron zu den bekanntesten Autoren von Spionageromanen im englischsprachigen Raum. Die Reihe wurde von Apple TV verfilmt und heimste – wie schon die Bücher – mehrere Preise ein. Dass Mick Jagger die Titelmusik dazu schrieb, macht Mick Herron besonders stolz: „Leider habe ich Mick Jagger nie getroffen, aber ich weiß, dass er meine Romane schätzt.“

John le Carré als Vorbild
Natürlich sei der plötzliche Erfolg eine große Überraschung für ihn gewesen, sagt Mick Herron, der John le Carré sein größtes Vorbild nennt. „Eine Überraschung und auch eine große Ehre.“ Schon als Jugendlicher habe er Bücher schreiben wollen, aber nie gedacht, dass sich damit Geld verdienen ließe.
„Englisch war das einzige Fach, in dem ich gut war.“ Also studierte er englische Literatur in Oxford, wo er noch heute lebt, und schrieb Romane, die zunächst kaum jemand lesen wollte. Der Erfolg kam erst mit den „Slow Horses“.
„Ein bisschen wie eine Pflanze“
Im Jahre 2018 hing er seinen Brotberuf an den Nagel, um sich ausschließlich dem Schreiben zu widmen. Ein Sprung ins kalte Wasser, den er bis heute nicht bereut hat. „Ich bin ein fleißiger Mensch und sitze jeden Tag mehrere Stunden am Schreibtisch Tag“, erzählt er. „Für ein Buch brauche ich etwa 18 Monate.“ Im Januar 2023 ist sein 15. Roman fertiggeworden, ein sogenannter Stand-Alone-Krimi, in dem freilich etliche Charaktere aus seiner Slow-Horses-Reihe eine Rolle spielen.
„Ich gehe von meinen Figuren aus und überlege, was ihnen widerfahren soll“, beschreibt Mick Herron seine Arbeitsweise. „Von diesem Kern aus entwickle ich die Handlung, also von innen nach außen. Ein bisschen wie eine Pflanze, die sich langsam aus einem Samenkorn entwickelt.“ Demnächst werde er mit dem achten Band der Serie beginnen, einen Plot habe er bereits. Worum es gehe, könne er selbstverständlich nicht verraten. Nur so viel: Keine toten Pinguine.
Petra Pluwatsch
Mick Herron: „London Rules – Ein Fall für Jackson Lamb“, dt. von Stefanie Schäfer, Diogenes, 496 Seiten, 18 Euro. E-Book: 14.99 Euro.
