
So viel Neues, so viel Gutes. Zwar hat uns Wilhelm Genazino, der am 22. Januar 1943 in Mannheim geboren wurde und am 12. Dezember 2018 in Frankfurt am Main gestorben ist, immerhin 20 Romane hinterlassen. Doch nun, rechtzeitig zum 80. Geburtstag an diesem Sonntag, erscheint noch ein Band mit bislang unveröffentlichten Aufzeichnungen. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Denn Wilhelm Genazino hat insgesamt 38 Aktenordner mit Beobachtungen, Reflexionen, Aphorismen, Ideen und Entwürfen gefüllt.
Lesebuch mit vielen leuchtenden Stellen
Schon zu Lebzeiten hat er die ersten Ordner dem Literaturarchiv in Marbach übergeben. Bei diesem Anlass sagte er im Jahre 2012: „Die Aufzeichnungen sind oft nur deshalb entstanden, weil ich meiner inneren Mutlosigkeit irgendetwas entgegenhalten wollte. Ohne diese Vor-Notizen wären die ‚eigentlichen‘ Werke nie entstanden.“
Jan Bürger und Friedhelm Marx legen nun eine attraktive Auswahl aus den Aufzeichnungen der Jahre 1972 bis 2018 vor: „Der Traum des Beobachters“ ist ein Lesebuch mit vielen leuchtenden Stellen. Wilhelm Genazino hat diese Notate nicht ‚einfach so‘ den Aktenordnern anvertraut. Vielmehr hat er das, was er zuhause oder unterwegs auf Zetteln festgehalten hat, noch einmal säuberlich mit der Schreibmaschine abgetippt und sicherlich da und dort poliert.
„Schriftlich war er eine andere Person“
Für die Fans von Wilhelm Genazino wird es eine Verlockung sein, all die Passagen ausfindig zu machen, die im veröffentlichten Werk Aufnahme gefunden haben. Und das sind wahrlich nicht wenige, wie die Herausgeber in ihrem Nachwort bestätigen. Erst recht werden jene Leserinnen und Leser ihr Vergnügen mit diesem Band haben, die noch nicht vertraut sind mit der melancholisch-aufmerksamen Weltbetrachtung, die in der Prosa des Büchnerpreis-Trägers zu finden ist – vom Frühwerk „Laslinstraße“ (1965) bis zu „Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze“ (2018).
Die Auswahl aus 37 Aktenordnern (der Ordner mit Entwürfen zu Theaterstücken wurde nicht berücksichtigt) bietet ein weites Panorama. Zum einen das Biographische: Das Aufwachsen in ärmlichen Verhältnissen, die Erinnerung an die Eltern, das 1982 in Marburg nachgeholte Abitur („Note 1“), die Schatten des Alters und das Schreiben: „Schriftlich war er eine andere Person.“ Zum anderen das Allgemeine, das dem passionierten Flaneur aufgefallen ist. Die Gesellschaft und das Individuum, Mensch und Tier, der Main und der Rhein, die Stadt und das Meer werden genau und detailliert beschrieben. Da wirkt Wilhelm Genazino wie ein Jäger und Sammler der Augenblicke. Auch würdigt er seine Kunstheroen, vorneweg Kafka und Beckett. Bei alledem wird die Einladung zur Pointe gerne angenommen: „Hölderlin verstand nicht gleich, was er da kapiert hatte.“
Abschaffel beobachtet das Licht der Lampe
Die Spur der Dichtung ist in den Aufzeichnungen dominant. Schon 1974 findet sich ein Entwurf für den Romanhelden Abschaffel, dem der Autor zwischen 1977 und 1979 eine erfolgreiche Trilogie widmen wird: „Der Junggeselle Abschaffel lag allein auf seinem Bett, und er hatte bereits begonnen, der Lampe in seinem Zimmer zuzusehen, wie sie Licht gab und das Zimmer damit ausfüllte. Er drehte den liegenden Kopf in diese und in jene Richtung, mal in eine hellere und mal in eine schattigere Zimmerpartie, und schon bei dieser Beschäftigung hätte er bemerken müssen, dass sie ihn nicht weit würde tragen können.“
Das Allerlei aus fast 50 Jahren ist intensiv und lebendig. Wie das? Intensiv wirkt es, weil die Notate immer schnell zum Punkt kommen. Hier wird nichts ausufernd ausgepinselt, sondern die Striche sind klar und kräftig. Und lebendig wirken Genazinos Aufzeichnungen, weil es oft ans Eingemachte geht. Er versteckt sich nicht hinter fiktiven Figuren und belässt es nicht bei Andeutungen.
„Aus Scham ging er früh zu Bett“
Das bezeugt eine Erinnerung an den Vater, eine tragische Vignette in fünf kurzen Sätzen, aufgeschrieben im Jahr 1988: „Vater, als er arbeitslos war: aus Scham ging er früh zu Bett. Schon kurz nach dem Abendbrot ging er ins Schlafzimmer, zog sich dort aus und kam mit dem Nachthemd bekleidet in die Küche zurück, um den Wecker zu holen. Er lehnte am Küchentisch und zog den Wecker auf und stellte ihn wie immer auf sechs Uhr. Er hielt den Wecker wie einen Apfel in der Hand und schaute eine Weile umher. Dann verließ er die Küche und legte sich ins Bett.“
Sein Leben als Autor hat Wilhelm Genazino einmal, bei der Vorbereitung einer Rede, in drei Phasen unterteilt. Erste Phase: der autobiographische Anfang. Zweite Phase: die Vorstellung, die Literatur wirke in die Gesellschaft hinein. Dritte Phase: Aufgabe der Vorstellung und Verzicht auf den Anspruch, auf die Gesellschaft einwirken zu wollen. An anderer Stelle heißt es: „Die engagierte Literatur ist nicht deshalb obsolet, weil sie die unerträglichen Verhältnisse falsch dargestellt hätte; sondern deshalb, weil ihre Verfasser glauben und immer geglaubt haben, mit der Darstellung schon einen Schritt zur Veränderung getan zu haben.“
Roman zum Weltabschied
„Der Traum des Beobachters“ ist eines dieser Bücher, das immerzu zitiert werden will. Wer zum Anstreichen von markanten Stellen neigt, ist hier stark gefordert. Uns fällt es jetzt schwer, die Entscheidung für das finale Zitat zu treffen. Es gibt zu viele Kandidaten. Dass Wilhelm Genazino in seinem Todesjahr die Frage „Wann schreibe ich meinen Weltabschiedsroman?“ stellt, gehört dazu. Aber wir schleichen uns lieber mit einem Augenzwinkern aus diesem Text, mit einer Notiz aus dem Juli 1993: „Sehnsucht, ein Schiff zu sein und zu verschwinden. Wenn ich ein Schiff wäre, würde ich tuten.“ Wer diesen Band liest, kann das Tuten hören.
Martin Oehlen
Wilhelm Genazino: „Der Traum des Beobachters – Aufzeichnungen 1972 – 2018“, hrsg. von Jan Bürger und Friedhelm Marx, Hanser, 464 Seiten, 34 Euro. E-Book: 28,99 Euro.
