Lade Dein Bewusstsein hoch: Jennifer Egan stellt ihren herrlich verstörenden Roman „Candy Haus“ in Köln vor

Jennifer Egan signiert im Kölnischen Kunstverein – und die Schlange spiegelt sich in ihrem Rücken. Foto: Bücheratlas

Die digitale Welt hat mehr zu bieten als sich der gewöhnliche Computer-Benutzer vorstellen kann. Aber immerhin sind wir noch nicht so weit, wie es Jennifer Egan in ihrem neuen Roman „Candy Haus“ ausmalt. Der Clou des Romans ist eine App, die der genialische Bix Bouton eingeführt hat: „Besitze Dein Unterbewusstsein“. Mit ihr kann man seine Erinnerungen hochladen, was nicht ganz übel klingt, allerdings stehen diese dann auch anderen Menschen zur Verfügung, was die Verlockung doch etwas tricky macht. Das Soziale Netzwerk „Mandala“ – ein anderes Facebook oder Instagram also – bietet diesen Dienst mit einem vielversprechenden Slogan an: „Erobere Deine Erinnerungen zurück!“.

Es ist jede Menge los in Jennifer Egans neuem Gesellschaftspanorama. Der stilistisch variantenreiche Roman greift hinaus in die nahe Zukunft und hält über einige Figuren die Verbindung zum vielfach gefeierten und mit dem Pulitzerpreis ausgezeichneten Roman „Der größere Teil der Welt“. Der ist 2010 in den USA erschienen – in jenem Jahr, in dem „Candy House“ (was im Englischen auf das Lebkuchenhaus in „Hänsel und Gretel“ anspielt) einsetzt.

„Hello darkness, my old friend“

Nun stellte Jennifer Egan die Neuerscheinung auf Einladung des Literaturhaus Köln im Kölnischen Kunstverein vor. Zuletzt war sie am gleichen Ort vor vier Jahren mit ihrem Bestseller „Manhattan Beach“ zu Gast gewesen (einen Bericht darüber gibt es HIER). Und es war abermals ein erfrischendes Vergnügen, der so gewitzten wie professionellen Autorin im Gespräch mit Julian Hanebeck zuzuhören.

Auch der Moderator war sofort in Schwung. Er verglich den Roman mit Elektropop: Wie ein Drumbeat vom nächsten verdrängt werde, so schiebe sich in „Candy Haus“ eine Erzählung über die die andere. Zwei lange Passagen trug Milena Karas vor. Sie tat dies gewohnt souverän, erfreute mit einer Gesangseinlage aus „Sounds of Silence“ von Simon & Garfunkel („Hello darkness, my old friend …“) und erhielt einen Sonderapplaus der Autorin für einen fein interpretierten Dialog.

Die Bühne im Kölnischen Kunstverein: Kölns Literaturhaus-Leiterin Bettina Fischer (rechts) begrüßt Jennifer Egan (am Tisch in der Mitte) sowie Sprecherin Milena Karas und Moderator Julian Hanebeck. Foto: Bücheratlas

„Risse in der Windschutzscheibe“

Dass es jemals möglich sein könnte, das Bewusstsein im Internet hochzuladen, will Jennifer Egan nicht hoffen. Allerdings wisse sie, wie sehr die amerikanische Öffentlichkeit nach Authentizität lechze. Ob dies auch für Europa gelte, könne sie nicht beurteilen. Aber klar sei, dass es in den USA geradezu eine Obsession sei, das Reale ausfindig zu machen. Das liege daran, dass Gesellschaft so sehr vom Fernsehen geprägt werde.

In dem vielstimmigen Roman erfahren wir von der „Algebrarisierung“ des Daseins. Da lassen sich nicht nur mathematische Formeln finden für das ganze Spektrum an Emotionen und Reaktionen in Serien und Filmen, sondern auch für das individuelle Dasein. Plötzlich weiß man nicht mehr, ob es sich beim Gegenüber um das Original oder nur um eine Platzhalteridentität handelt. Bei so viel digitaler Verstörung mag man an Bix Bouton denken, den Internet-Pionier in „Candy Haus“. Er spürte schon früh „die Vibrationen, mit denen die Fäden eines allen verbindenden, unsichtbaren Netzes die vertraute Welt zu durchziehen begannen, als wären es immer weiter um sich greifende Risse in einer Windschutzscheibe.“

Das Geheimnis der Existenz

Nicht zuletzt sang Jennifer Egan an diesem Abend ein Loblied auf die Literatur. Keine andere Kunst könne derart tief in das Innere der Menschen eindringen wie die Dichtung, sagte sie. Musik, Film oder bildende Kunst hätten ihre eigenen Qualitäten. Doch wenn es darum gehe, in die Haut einer anderen Person zu schlüpfen, gebe es dafür keine bessere Basis als die Sprache: „Fiction ist für mich die einzige Erzählweise, die uns in die Köpfe der Protagonisten führt – bei allen anderen Erzählweisen wie etwa dem Film bleiben wir draußen.“  

Beim Schreiben geht es der Autorin nicht darum, alle Fragen zu beantworten. Vielmehr verstehe sie ihre Kunst als eine Art Kontemplation über das Geheimnis, das alle und alles umfängt. Wir sollten uns immer bewusst sein, meinte Jennifer Egan, wie großartig die Schöpfung sei und wie wenig wir von unserer Existenz verstehen. Mehr geht nicht. Das war der würdige Schlusspunkt einer besonders schönen Lesung.

Martin Oehlen

Auf diesem Blog

haben wir über Jennifer Egans Lesung aus ihrem Roman „Manhattan Beach“ HIER berichtet.

Jennifer Egan: „Candy Haus“, dt. von Henning Ahrens, S. Fischer, 416 Seiten, 26 Euro. E-Book: 22,99 Euro.

Jennifer Egan: „Der größere Teil der Welt“, dt. von Heide Zeltmann, S. Fischer, 404 Seiten, 10,70 Euro. E-Book: 9,99 Euro.

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