Das Messer, die Zunge und der Widerstand der Frauen: „Die Stimme meiner Schwester“ von Itamar Vieira Junior erzählt von Ausbeutung in Brasilien

Den Traum von einem freien Leben träumen die Frauen im Roman von Itamar Vieira Junior. Foto: Bücherartlas

Das Messer der Großmutter Donana ist einfach zu verlockend, als es im Koffer liegen zu lassen. Während die Erwachsenen irgendwo auf der Fazenda Agua Negra im Nordosten Brasiliens ihrer Knochenarbeit nachgehen, nehmen die sieben Jahre alte Bibiana und ihre ein Jahr jüngere Schwester Belonísia die Rarität mit dem Elfenbeingriff unter die Lupe. Erst steckt sich Bibiana die Klinge in den Mund, um deren Geschmack zu kosten, dann macht es Belonísia ihr nach. Dabei unterläuft dem Mädchen ein fatales Missgeschick: Es schneidet sich die Zunge ab. Belonísia wird nie mehr sprechen können. Aber wir werden noch einiges von ihr hören.

Moderne Sklaverei

„Die Stimme meiner Schwester“ – der Originaltitel „Torto arado“ aus dem Jahr 2018 bedeutet „Krummer Pflug“ – ist der Debütroman des Brasilianers Itamar Vieira Junior. Die Geschichte des Autors, der 1979 in Salvador da Bahia geboren wurde, handelt von schweißtreibender Ausbeutung im kargen Sertão, von Gewalt und Rassismus – und vom sich allmählich formierenden Widerstand gegen das „Knechtschaftsverhältnis“.

Was ist da los? Eine Szene mitten im Roman beschreibt die Ungerechtigkeit exemplarisch: Sutério, der Verwalter der Plantage greift sich beiläufig die wenigen Kartoffeln, die sich die hungernde Familie auf dem Markt besorgt hat. Der Protest gegen den Diebstahl bleibt aus. Denn als Nachfahren der Sklaven haben die Arbeiter keine Rechte. Die Sklaverei wurde in Brasilien offiziell im Jahre 1888 abgeschafft, doch sieht Wikipedia im Sertão noch heute Spuren „moderner Sklaverei“.

„Jede Stunde hat ihre eigene Plage“

Vor allem die Frauen sind in diesem Roman die Opfer. Sie führen ein Leben zwischen Wut und Angst. Nicht nur werden sie als Arbeitskräfte ausgebeutet, sondern überdies von den Männern gedemütigt und geschlagen. „Jede Stunde hat ihre eigene Plage“, lässt Belonísia uns wissen. Aber sie besitzt ja noch das Messer der Großmutter. Die Waffe gerät in diesem Roman über all die Seiten und all die Jahrzehnte hinweg niemals aus dem Blick.

In drei Großkapiteln werden wir Zeugen der bitteren Ereignisse. Zunächst ist es Bibiana, die uns erzählt, wie sie mit ihrem Ehemann das Weite sucht und dann doch eines Tages zur Fazenda zurückkehrt, um den Kampf für elementare Rechte zu organisieren. Danach schildert Belonísia ihr alltägliches Leid mit einem besoffen-brutalen Ehemann. Schließlich ist es eine „Verzauberte“ namens Santa Rita Pescadeira, die Auskunft gibt und Andeutungen macht. Sie hat einen geschärften Blick auf die Ereignisse, da sie sich in die Körper und Kleider anderer Frauen beamen kann.

Die Verzweiflung der Landlosen

Die Anklänge an den „magischen Realismus“, der vor 50 Jahren den lateinamerikanischen Roman weltberühmt gemacht hat, sind nicht zu übersehen. Dass der Spiritismus dort einen guten Nährboden findet, wo keine Besserung in Sicht scheint und Schulbildung nicht selbstverständlich ist, steht außer Frage. Und so spielen hier afrobrasilianische Geister und Heiler, Gebete und Wurzelsäfte eine Rolle.

„Die Stimme meiner Schwester“ ist in Brasilien zu einem großen Verkaufserfolg geworden. Literaturpreise gab es zudem. Das ist nur zu verständlich angesichts der Kraft des Plots und der Bedeutung des Themas. Eindrucksvoll macht Itamar Vieira Junior auf die Verzweiflung der Landlosen aufmerksam, die sich im real existierenden Brasilien zum „Movimiento sem terra“ zusammengeschlossen haben. Seit den 1980er Jahren ist die Bewegung um eine umfassende Landreform bemüht, wozu die Ansiedlung von Bedürftigen auf brachliegendem Grund gehört.

Reizthema im Wahlkampf

Der Roman gibt diesen Landlosen eine Stimme. Einmal fragt ein Junge seinen Vater, „warum wir nicht auch die Eigentümer des Landes seien, auf dem wir seit jeher geboren wurden und arbeiteten.“ Nicht einmal Steinhäuser sind erlaubt. Die Großgrundbesitzer, fernab in Rio de Janeiro oder wo auch immer wohnend, genehmigen nur den Bau von Lehmhäusern.

Die Situation der Landlosen ist auch ein Aspekt im aktuellen Präsidentschaftswahlkamp in Brasilien. Kürzlich erst hat der linke Kandidat und ehemalige Präsident Lula den Roman von Itamar Vieira Junior in die Kamera gehalten. Von Bolsonaro hingegen hört man, dass er den Schulterschluss mit den Großgrundbesitzern sucht. Wen es interessiert: Gewählt wird am 2. Oktober.

Langschwanzammer und Seidenkuhstärlinge

Ja, Itamara Vieira Juniors Roman zeugt von intimer Kenntnis der prekären sozialen Verhältnisse. Aber nicht nur das. Der studierte Geograf und Ethnologe ist offenbar bestens vertraut mit Flora und Fauna. Plastisch schildert er das mal sumpfige und mal verdorrte Terrain im Nordosten. Und durch die heißen Lüfte fliegen Langschwanzammer, Bürzeltstelzer und viel zu viele, weil die Ernte aufpickende Seidenkuhstärlinge.

Ein paar Abstriche gilt es auch zu erwähnen. Sprachlich und konzeptionell kommt der Roman unauffällig daher. Auch bleiben die handelnden Personen, so sehr sie unsere Anteilnahme erregen, ein wenig auf Distanz. Trotzdem ist es nur erfreulich, dass wir diesen brasilianischen Bestseller nun auch in der deutschen Übersetzung von Barbara Mesquita lesen können.

Dass die Welt voller Ungerechtigkeiten ist, wissen wir. Doch was das im Konkreten bedeutet, wird von Itamar Vieira Junior intensiv vor Augen geführt. Es ist eine Geschichte aus der Geschichte, die fortwirkt bis in die brasilianische Gegenwart.

Martin Oehlen

Itamar Vieira Junior: „Die Stimme meiner Schwester“, dt. von Barbara Mesquita, S. Fischer, 320 Seiten, 25 Euro. E-Book: 22,99 Euro.

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