
Agatha Christie auf Japanisch – das sind „Die rätselhaften Honjin-Morde“ von Seishi Yokomizo (1902-1981), die jetzt erstmals auf Deutsch vorliegen. Im Zentrum steht ein Brautpaar, das in der Hochzeitsnacht tot aufgefunden wird – brutal zugerichtet durch ein Schwert. Das Mysteriöse: Die Tatwaffe steckt demonstrativ im verschneiten Garten, obgleich das Haus von innen verriegelt war, so dass niemand nach der Tat hätte fliehen können. Die Polizei ist ratlos. Aber da gibt es ja noch den Privatdetektiv Kosuke Kindaichi, dessen Kleidung zerknittert und ausgebeult ist und der sich immerzu durchs Haar fährt, als wäre er ein Vorläufer von Kommissar Columbo.
Privatdetektiv Kosuke Kindaichi löst 78 Fälle
Schriftsteller Seishi Yokomizo ist auf dem deutschen Buchmarkt bislang völlig unbekannt. Gleichwohl hat er in seiner Heimat einen vorzüglichen Ruf. Mit seinen „Rätselhaften Honjin-Morden“, die 1946 erschienen sind, begründete der Japaner nicht nur eine Reihe von insgesamt 78 Fällen um den kombinationsstarken Privatdetektiv. Auch erhielt er für dieses Krimi-Debüt (Romane hatte er schon zuvor veröffentlicht) den ersten jemals in Japan verliehenen Krimi-Preis. Zudem animierte er weitere Autoren seines Landes, sich auf das Genre einzulassen. Heutzutage gilt der Yokomizo-Seishi-Preis, der seit 1980 für einen unveröffentlichten Kriminalroman verliehen wird, als einer der am besten dotierten Literatur-Auszeichnungen.
Im Premierenfall, der sich im Jahre 1937 in der japanischen Präfektur Okayama ereignet, lernen wir Kenzo und Katsuko kennen. Der Mann stammt aus der angesehenen Familie Ichiyanagi, die Frau ist die Tochter eines ehemaligen Kleinbauern. Der Klassenunterschied schürt den Dünkel. Aus Sicht der Familie Ichiyanagi spielt es „keine Rolle, wie gebildet, klug oder intelligent sie war, nicht einmal ihr Vermögen zählte.“ Es zählte nur, dass Katsuko „ohne Namen und ohne Stammbaum“ war, also eine ganz und gar nicht standesgemäße Braut.
Spuren einer Drei-Finger-Hand
Reicht das für einen Mord? Allzu frühe Schlüsse sollte man nicht ziehen. Vieles ist zu berücksichtigen. Auch ein Fremder mit einer langen Narbe im Gesicht, der sich in der Gegend herumtreibt, wirkt verdächtig. Außerdem – aber lesen Sie selbst.
Mit Akribie und Finesse wird der Fall aufgerollt. Eine Fülle von Indizien werden geprüft, zu denen das traditionelle, einer Zither ähnelnde Saiteninstrument Koto, ein Katzengrab mit Zugabe, ein Tagebuch mit herausgerissenen Seiten, wegweisende Kriminalromane im Regal und die Spuren einer Drei-Finger-Hand gehören. Hilfreich bei der Aufklärung ist zudem das Memorandum von Dr. F., der die Toten untersucht hat und aus dessen Bericht ausführlich zitiert wird. Leserinnen und Leser sind immer dicht dran am Fortgang der Beweisführung – eine beigefügte Skizze des Tatorts ist dabei hilfreich.

„Locked Room Murder Mystery“
Das alles sorgt für ein behagliches Vergnügen. Befördert wird es von der Übersetzung, die Ursula Gräfe besorgt hat. Sie hat uns schon viele japanische Lesefreuden bereitet – mit Werken von Yukio Mishima, Haruki Murakami oder Sayaka Murata (deren Kurzgeschichtensammlung „Zeremonie des Lebens“ am 20. September erscheint). Die nicht wenigen japanischen Fachbegriffe, die sie im Text belassen hat, intensivieren die Atmosphäre und werden im Glossar erläutert. Honjin, so ist es dort vermerkt, wurden Gasthäuser in der Edo-Zeit (1603-1869) genannt, die hochrangigen Adligen vorbehalten waren. Ein solches Gasthaus hatten einst die Ichiyanagis geleitet.
Unter den Personen, die in diesem Roman auf sich aufmerksam machen, zählt nicht zuletzt der Erzähler selbst. Er gibt sich gleich zu Beginn als Krimischreiber zu erkennen, der immer schon einmal das Subgenre „Locked Room Murder Mystery“ bedienen wollte. „Jeder anständige Kriminalautor“, schreibt er, versuche sich irgendwann in seiner Laufbahn daran, einen Mord in einem verschlossenen Raum zu schildern.
Die Koto als Tatbeteiligungswaffe
Immer wieder macht sich der Erzähler den Spaß, die Leserinnen und Leser direkt anzusprechen, seine Leseerfahrungen zu teilen und auf sein Verfahren hinzuweisen. So fasst er gegen Ende zusammen, was er uns geboten hat: „Ich habe meine Geschichte im Stil klassischer Kriminalromane geschrieben, von denen ich insbesondere ‚Alibi‘ von Agatha Christie nennen möchte.“
Aber da stellt er sein Licht ein wenig unter den Scheffel. Denn das Setting ist durch und durch japanisch. Standesdünkel und Ehrbegriff sind der Tradition des Landes verbunden. Und eine Koto als Tatbeteiligungswaffe hat es in Old England auch noch nicht gegeben.
Martin Oehlen
Seishi Yokomizo: „Die rätselhaften Honjin-Morde“, dt. von Ursula Gräfe, Blumenbar, 206 Seiten, 20 Euro. E-Book: 4,99 Euro.
