
Emine Sevgi Özdamar, 1946 in Malatya in der Türkei geboren, schreibt den Roman ihres Lebens fort. Los ging es 1992 mit der Kindheitserzählung unter dem Langstrecken-Titel „Das Leben ist eine Karawanserei, hat zwei Türen, aus einer kam ich rein, aus der anderen ging ich raus“ (1992). Es folgten „Die Brücke vom Goldenen Horn“ (1998) und „Seltsame Sterne starren zur Erde“ (2003). Nun liegt im Suhrkamp Verlag mit „Ein von Schatten begrenzter Raum“ der vierte und mit fast 800 Seiten umfangreichste Lebensband vor. Wobei zu berücksichtigen bleibt, dass es ein Roman ist und keine Dokumentation – auch wenn viele bekannte Namen dort zu finden sind, nicht zuletzt aus dem deutschen Theater der 1970er und 1980er Jahre.
„Ich werde das Land verlassen“
Im Berliner Literaturhaus fand nun, moderiert vom Journalisten und Schriftsteller Harald Jähner („Wolfszeit – Deutschland und die Deutschen 1945 – 1955“), die Buchpremiere mit Emine Sevgi Özdamar statt. Dabei erhielten die Zuhörenden sogleich einen intensiven Eindruck von der Farbkraft, Phantasiefreude und Bilderlust des Romans.
In einer der Passagen, die Özdamar vortrug, fangen die Zimmerwände in der Nacht an zu reden. Allerdings ist es immerzu die Stimme der Ich-Erzählerin, die sich da meldet. „Eine Wand sagte: ‚Ich werde das Land verlassen. Wie Mari und Diana nach Europa wandern.‘ Die andere Wand sagte: ‚Gut, zieh nur hin. Wohlan, hetz dich ab, wohlan, wie ein schneller Hund, renn hin zu diesem Europa.‘ Die dritte Wand, vor der ich im Bett lag, sagte: ‚Ach mein Kind, wie jung ist dein Blut, so gastfreundlich für verrückte Taten.‘“ Dann schlägt die Wanduhr des Nachbarn zweimal und die Erzählerin spricht es laut aus: „Ich werde gehen.“

„Meine Wörter wurden krank“
Özdamar hat die Türkei 1976 verlassen, als es für kritische Köpfe besonders gefährlich wurde im Land. Vieles habe man nicht mehr aussprechen können, ohne ins Risiko zu gehen. Es wurde gefoltert, es wurde gemordet. „Meine Wörter wurden krank“, sagte sie nun im Berliner Literaturhaus. Da habe sie beschlossen, mit ihren Wörtern ins Sanatorium der deutschen Sprache zu gehen. In Westberlin lebte sie in einer Wohngemeinschaft, und in Ostberlin arbeitete sie als Schauspielerin am Volkstheater von Benno Besson und Matthias Langhoff. Gerade das Theater sei eine Wohltat gewesen – da hätten ihre türkischen Wörter am Bühnenrand gestanden und gestaunt, was man alles sagen könne.
Das Pendeln zwischen den Systemen im geteilten Deutschland schilderte Özdamar höchst anschaulich als Wandeln zwischen zwei Welten. Ihr sei es zuweilen so gegangen, dass sie auf der gleichsam innerstädtischen Fahrt von Ost nach West feststellte: Ach, hier hat es ja auch geschneit. Genauso sei es gewesen, wenn jemand aus dem Westen im Osten anrief und fragte: Habt Ihr auch schönes Wetter? Als würde Petrus oder wer immer für das Wetter zuständig ist auf eine Mauer Rücksicht nehmen.
„Ich liebte es, in einem Land zu leben, das lebensfähig war“
Noch so eine Beobachtung der Schriftstellerin: In Ostberlin seien die Menschen anders als in Westberlin nicht „zickzack“ gelaufen. Denn wo keine Geschäfte locken, lohnt es sich auch nicht, die Straßenseite zu wechseln, um Schaufenster zu studieren. In der DDR, so sagte es Özdamar, sind die Leute immer geradeaus gegangen. Weil es eben nichts zu sehen, prüfen, kaufen gab.
„Ich liebte es, in einem Land zu leben, das lebensfähig war“, heißt es im Roman über Deutschland. Eine Heimat ist ihr Berlin gleichwohl nicht geworden. Allerdings hat sie dort – und ebenso in Bochum oder Paris, den anderen wichtigen Stationen ihres Theaterlebens – viele Heimaten gefunden. Im Wortlaut liest sich das so: „Wenn man von seinem eigenen Land einmal weggegangen ist, dann kommt man in keinem neuen Land mehr an. Dann werden nur manche besonderen Menschen dein Land.“
„Danke dir, Mond über Deutschland“
Auch habe sie Wohnung genommen bei einigen deutschen Schriftstellern: „Wo wohnen Sie, Madame? In Franz Xaver Kroetz. In Herbert Achternbusch. In Rainer Werner Fassbinder. In Heinrich Böll. In Wolfgang Neuss. In Rosa von Praunheim. In Thomas Brasch. In Hannah Arendt. Danke dir, Mond über Deutschland, dass du all diesen Menschen deine Lichter gabst.“
Eine Buchpremiere war das, die Lust machte auf dieses sprachmächtige Erinnerungswerk über die 1970er Jahre. Das war eine Zeit, wie Özdamar schreibt, als die Hölle Pause machte. Jedenfalls in diesem Teil der Welt.
Martin Oehlen
Emine Sevgi Özdamar: „Ein von Schatten begrenzter Raum“, Suhrkamp, 764 Seiten, 28 Euro. E-Book: 23,99 Euro.

Lieber Herr Oehlen, wie dumm von mir, ich habe Sie gerade gar nicht erkannt. Zu tief in Gedanken, zu abgelenkt. Schade, ich hätte Sie gerne gesprochen. Bitte entschuldigen Sie. Und Danke für den schönen Bericht.
LikeLike