Mit Nikolaus Kopernikus und Apollo 11 von Tag zu Tag: Lew Rubinsteins anregender Abreißkalender „Ein ganzes Jahr“

Foto: Bücheratlas

Lew Rubinstein, 1947 in Moskau geboren, reißt für uns ein Kalenderblatt nach dem anderen ab. Buchseite für Buchseite geht es Tag für Tag voran – gelegentliche Abweichungen vom Schema inklusive. Ein jeweils vermerktes historisches Ereignis kombiniert der Schriftsteller und Konzeptkünstler mit einer Erinnerung an Privates, Historisches, Politisches.

Das ist mal harmlos und mal nicht. Harmlos, wenn er die „Geburt von Nikolaus Kopernikus“ am 19. Februar 1473 kommentiert: „Das weiß ich seit meiner Kindheit und vergesse es nie. Was auch kein Wunder ist. Aber wieviel mehr Menschen wurden am selben Tag wie ich geboren, wenn auch in anderen Jahren!“. Und das ist mal ganz und gar nicht harmlos, wenn ihm zur „Geburtsstunde des Popcorns“ am 22. Januar 1630 einfällt: „Judenhetzer fingen auf der Straße ihrer Meinung nach verdächtig aussehende Jungen ein und zwangen sie, das Wort ‚Korn‘ auszusprechen. Wenn einer das ‚r‘ nicht richtig aussprach, wurde er umgebracht.“

Einblicke in den sowjetischen Alltag gibt es allemal. Welchen Tag haben wir heute? Stimmt, es ist der 20. Juli. Rubinsteins Kalender erinnert – nein, nicht an das gescheiterte Attentat auf Adolf Hitler im Jahre 1944, sondern an die Landung von Apollo 11 auf dem Mond im Jahre 1969. Dazu sein Blick zurück auf den real existierenden Kommunismus: „Weder im Radio noch im Fernsehen wurde davon berichtet. Nur eine winzige Notiz in der ‚Iswestija‘ berichtete davon, irgendwo rechts in der Ecke, neben der Wettervorhersage und dem Valutawechselkurs. Genaueres erfuhren wir über den Sender ‚Voice of America‘. “

Allemal anregende Kalendergeschichten sind das, entstanden aus einem Theaterprojekt des Autors. Hilfreiche Erläuterungen zu der einen oder anderen Notiz finden sich im Anhang. Ein schön gestaltetes Buch ist „Ein ganzes Jahr“ obendrein – so wie es Tradition ist bei der Friedenauer Presse. Lew Rubinsteins Assoziationen zwischen historischem Ereignis und persönlicher Reaktion sind nicht durchweg himmelsstürmend gewitzt, sondern auch mal nichts als bodenständig. Klar ist jedoch: Einen reizvolleren Abreißkalender als diesen gibt es derzeit nicht.

Martin Oehlen

Lew Rubinstein: „Ein ganzes Jahr – Mein Kalender“, aus dem Russischen von Werner Boschmann und vielen anderen, hrsg. von Susanne Strätling und Georg Witte, 448 Seiten, Friedenauer Presse, 32 Euro.

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