Waten im Urschlamm der Wörter: Oswald Eggers „Entweder ich habe die Fahrt am Mississippi nur geträumt, oder ich träume jetzt“ ist ein wundersames Spracherlebnis

Sandspuren am Ufer, wie sie von Oswald Egger beschrieben werden. Allerdings stammt unsere Aufnahme nicht vom Mississippi, sondern vom Indischen Ozean. Foto: Bücheratlas

Was geht hier vor?“ Die Frage, die auf Seite 94 von Oswald Eggers Mississippi-Expedition aufploppt, stellen sich die meisten Leserinnen und Leser gewiss schon viel früher. Und die meisten werden sich denken: Ach, lesen wir erst einmal weiter. Denn der Schriftsteller sorgt mit seinem formal streng gegliederten und wortreich ausufernden Text für einen beharrlichen Sog, wie er dem Mississippi eigen ist. Ob das Ich, das sich auf die Reise macht, tatsächlich je am legendären Mark-Twain-Fluss gewesen ist, bleibt ungewiss. Da genügt schon der Blick auf den Buchtitel: „Entweder ich habe die Fahrt am Mississippi nur geträumt, oder ich träume jetzt“. Gleichwohl wird die Landschaft intensiv beschrieben: „Aus dem Moiré der Erinnerungen“ erwächst eine poetische Steigerung des so populären Nature Writing.

Quastensaft und Reiherbeize

Zwischen Wald und Wellen geht es also traumwandlerisch voran: „Meine Beschreibung muss von jemandem kommen, der den Fluss so nie gesehen hat.“  Bald schon wundert man sich nicht mehr über „Exkrete“, „Quastentaft“ und „Reiherbeize“, über „göpelig“, „bausbäckig“ und „insichdicht“. Vielmehr wächst die Bereitschaft, den Wortfinder, Wortschöpfer und Wortspieler Oswald Egger zu preisen.

Es ein Waten im Urschlamm der Wörter: „Höckerige, ins Tropfstein-artig Traubige überlaufende, rieselige Triebsel hingen aus zahllos langen knorpeligen Hornbosteln ins sinkende Felsbassin, mit schartrandig geriffeltem Wirbelsprung, gelappte Blendformen, die schlotterförmig in den Kolkhof flottierend sprossten; Waffelfelszellen, stets wieder die erhitzten Zischtuscheln, schnobernd aus den Wocken, Schottern und Tobeln, in die geritzten Zinken mit vagen, mit welken Fädselchen heruntertriefend hingen.“

Der Schrei des Krokodils

Auf dem Weg zum weitverzweigten Delta werden rund „anderthalbtausend Flugfische“ wahrgenommen, die „Winkerkrabbe“ zeigt sich, der „Schrei des Krokodils“ ist unüberhörbar. Wähnt man sich zwischendurch einmal angekommen auf festem Grund, so wird einem dieser schon wieder entzogen. Präsens und Imperfekt wechseln in einem Satz: „die Blätter welken sich tot und verdorrten.“ Konjunktiv und Konditional sind verbreitet: „Wo man aufträte, wäre feuchte Lautlosigkeit.“

Die Fundstücke entlang des Flusslaufs sind allemal klangvoll. Gewiss bestens geeignet für den öffentlichen Vortrag. Daher darf darauf verwiesen werden, dass der aus Südtirol stammende Oswald Egger auf der Raketenstation Hombroich lebt, wo einst Thomas Kling die Lyrik, die auch performt werden kann, groß gemacht hat.

Der Flusslauf in Wort und Bild

Blick ins Buch – in diesem Fall in den Bildteil der Mississippi-Expedition Foto: Bücheratlas

Der exquisiten Wortwahl entspricht die sorgfältige Buchgestaltung. Dazu zählen vor allem die Aquarelle des Künstlers. Gleich zu Anfang des Textes ist vom „Fließen der Pinsel und Strichelchen im aquatilen Takt“ die Rede. Mehrseitig und in einem Fall ausklappbar ist das Geschlinge der Wasserpflanzen und das Sichverzweigen des Flusses von der dünnadrigen Quelle bis zum weit ausfächernden Delta. Ein transmediales Kunstwerk, eine Korrespondenz aus Wort und Bild.

All das ergibt eine entschieden eigenständige Literatur. Die zielt nicht auf einen Plot, sondern auf Spracherlebnis, ist eher Lyrik als Prosa, mal Exerzitium und mal Meditation. Insgesamt werden 336 Kapitel aufgeschlagen, von denen je zwei auf einer Seite platziert sind. Als Tagesdosis genügte schon ein Kapitel.  Aber dann liest man doch noch das nächste. Und das übernächste. Man kann diesem Wörterströmen nicht immer folgen. Aber das tut man gerne. Ein Mississippi der Poesie. 

Martin Oehlen

Oswald Egger: „Entweder ich habe die Fahrt am Mississippi nur geträumt, oder ich träume jetzt“, Suhrkamp, 384 Seiten, 28 Euro.

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