„Ras doch nicht so, Jahr, tu langsam!“: Martin Walsers „Sprachlaub“ über Leben und Vergänglichkeit

Martin Walser Foto: Bücheratlas

Darauf läuft am Ende alles hinaus. Auf dieses eine Tätigkeitswort. Auch in Martin Walsers jüngstem, wir-wissen-nicht-genau-wievieltem Werk. Ein simples, ein goldenes Tätigkeitswort: „leben“. Zur besseren Sichtbarkeit ist es kursiv gesetzt. Und das kommt so: „Stich mich nicht in die Hüfte, Freund, / zapf mich nicht an, ich wehre mich / nicht, ich bin bedacht und will / bis zum letzten Abend leben.“

„Ich tanzte, also war ich“

„Leben“ ist das finale Wort in dem Band „Sprachlaub“ des Schriftstellers, der am 24. März 94 Jahre alt wird. Doch nichts ist ohne sein Gegenteil wahr. Wo Leben ist, da ist auch Vergänglichkeit. Der neue Band mit lyrischen Notaten ist durchaus nicht arm an morbiden Einlassungen. Das einschlägige Wörterfeld ist gut besetzt: Sterben, Sterbebett, Gehen, Ende, Tod, Erkalten, Schwärze, Grab, Grabstein – all das findet sich hier.

Es ist guter Brauch, das lyrische Ich nicht mit dem Ich des Autors gleichzusetzen. Gleichwohl drängt sich der autobiographische Aspekt mehr als einmal auf. Zweifellos tritt auf Martin Walser zu, was hier geschrieben steht: „Schreiben und Leben fielen bei mir / fast von Anfang an zusammen. Ich tanzte, also war ich.“ Fast von Anfang an? Ja, das Schreiben ging ja nicht erst los mit „Ein Flugzeug über dem Haus und andere Geschichten“ von 1955. Im autobiographischen Roman „Ein springender Brunnen“ (1998) werden einige Jugendgedichte zitiert. Eines davon geht so: „Oh, dass ich einsam ward / so früh am Tage schon.“

Der Mollton durchzieht das ganze Werk. Bis heute. „Ich steht mit dem Rücken / zur Gegenwart, / im Garten verglüht / meine Geschichte.“ Die Sehnsucht ist groß nach purer Existenz. Nichts erwarten wollen. Raus aus dem Geschirr des Alltags, weg von allem Zweck, fort aus dem täglichen Eis. Doch das sagt sich so leicht. Sobald es um Zwischenmenschliches geht, wird es bitter: „Bewundernd und bewundert / kommt man in die Welt, / verachtet und verachtend / verlässt man sie, wenn alles / normal verläuft.“

„Der Wind wird es wissen“

Die Gedichte, gelegentlich gereimt und kürzer als zuletzt beim „Spätdienst“, lassen keinen Zweifel an der Dringlichkeit des Vorgebrachten. Immerhin können Freitod-Erwägungen verdrängt werden vom Möglichen: „Wart ab bis morgen, / es könnte sein, dass du / morgen etwas zu essen bekommst, / wofür es sich lohnt, / am Leben geblieben zu sein.“

Zuflucht bietet zuweilen die Natur. Das Blau des Himmels. Freund Salbei, Freundin Melisse. Auch der Regen. Mit Amsel und Katze lässt sich kommunizieren. Vor allem aber werden Wind und Baum aufgeboten: „In meinen Ohren wohnen Schreie / wie Vögel. Vielleicht bin ich / ein Baum. Der Wind / wird es wissen.“

Dem gesellschaftlichen Diskurs scheinen diese Zeilen entrückt zu sein. Dann aber gibt es überraschend konkrete Einlassungen zur Lage. Mindestens zwei. Einmal wird der Tod von Rolf Hochhuth beklagt: „Er hätte nicht vor mir sterben dürfen. / Er war doch jünger.“ Ein anderes Mal gelangt die Politik in den Fokus. Das geschieht ausnahmsweise nicht in der Versform, sondern als Prosaminiatur. Darin heißt es: „Nichts scheint einander so auszuschließen wie Politik und Glaubwürdigkeit. Und nicht schamloser als der Gebrauch von Religionswörtern zur Legitimierung politischer Haltung.“

„Wahr ist, was schön ist“

„Wahr ist, was schön ist“, lautet der Untertitel des „Sprachlaub“. Zur Schönheit des Bandes trägt Alissa Walser bei, die Tochter des Autors und selbst als Schriftstellerin wirkend. Sie hat das Motiv für den Umschlag geliefert. Nicht zum ersten Mal. Ihr rotes Pferd, das mit gesenktem Kopf durchs Grüne stiebt, schmückte Walsers berühmte Novelle aus dem Jahre 1978: „Ein fliehendes Pferd“. Das war ein Jugendwerk. Mittlerweile finden sich Alissa Walsers Kunstspuren auch im Inneren mancher Bücher des Vaters. Zuletzt waren einige Arabesken im „Spätdienst“ von 2018 eingestreut. Diesmal ist ihr Auftritt besonders prominent – jeweils ganzseitig und auch mal auf sechs aufeinanderfolgenden Seiten. Breit schwingende, mehrfarbige, da und dort ausbleichende Pinselstriche sind es, die von schmalen Bändern gequert werden. Als blickten wir in ein Gewässer, in dem sich Pflanzenstiele regten; als ginge es um einen Echoraum, in dem noch nie gehörte Töne angeschlagen würden.

Das ist eine stimmige und schöne Begleitung der Texte. Diese leuchten auf Walser’sche Art – sprachmächtig, ausdrucksstark, anregend und bewegend. Unverwechselbar. Die Endlichkeit des Lebens ist diesem altmeisterlichen Werk tief eingebrannt. Zwei Verse für die Ewigkeit: „Ras doch nicht so, Jahr, / tu langsam!“

Martin Oehlen

Martin Walser. „Sprachlaub oder: Wahr ist, was schön ist“, mit Aquarellen von Alissa Walser, Rowohlt, 144 Seiten, 28 Euro.

2 Gedanken zu “„Ras doch nicht so, Jahr, tu langsam!“: Martin Walsers „Sprachlaub“ über Leben und Vergänglichkeit

  1. Eine schöne Hommage, die einem fast das ganze Buch ersetzt. Ja, der Mollton durchzieht das ganze Werk. Uwe Johnson lässt den Freund von einst so zu Wort kommen (im Zitat, und nur zitiert aus dem Gedächtnis): Er könne nicht klagen, außer dass er lebe. Und das hat er selber gesagt (auch bloß aus dem Kopf gekramt): Der Zufriedene gehe in die Oper, der Unzufriedene schreibe.
    Zusatz: Vermutlich macht das dann zufrieden, selbst wenn es für die Oper noch nicht reicht. Aber die ist sowieso zu.

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    • Vielen Dank für die freundlichen Worte! Und für die Erinnerung an „den Freund von einst“. Aber – die Lektüre des Buches bitte ich doch in Erwägung zu ziehen. Denn wer sich mit der Besprechung begnügte, versäumte Verse wie diese: „Nächstes Jahr werde ich fragen: / Was hast du letztes Jahr getan? / Dann werde ich sagen: / Ich habe an diese Frage gedacht.“ Und andere Verse mehr. Ihnen sehr herzliche Grüße!

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