
Anna Sterns Roman „das alles hier, jetzt“ ist anders. Das ist schon einmal nicht schlecht. Und sobald der Leser ein, zwei Hürden der Eingewöhnung überwunden hat, wird es immer besser. Am Ende steht fest: das ist richtig gute Literatur. So sahen es auch die Juroren des Schweizer Buchpreises, die im November 2020 beim Abwägen ihrer Shortlist nicht dem süffigen Erzählen ihre Stimmen gaben, was auch legitim gewesen wäre, sondern dem experimentellen Erzählen: „Anna Stern hat einem der ältesten Themen der Literatur eine völlig neue Form und unerhörte Töne abgewonnen.“
Das alte Thema, das in konsequenter Kleinschreibung verhandelt wird, ist der Verlust einer geliebten Person. Ananke gehörte zum innig-engen Freundeskreis, den wir im Verlauf der Lektüre immer besser kennenlernen. Aber ob Ananke nun Frau oder Mann oder von anderem Geschlecht ist, werden wir nicht erfahren. Eine Geschlechter-Zuordnung bleibt auch bei der Erzählstimme offen, hinter der wohl Ichor steckt. Ja, grundsätzlich sind alle Namen – und es gibt viele Namen – wie aus einem neutralen Gender-Topf gezogen: Eden, Egg, Avi, Swann, Bas, Arlo, Roan, Fred, Vaska, Ash, Cato, Thaïs, Vienna, Ghiraff, Oregon, Loreto, Åbo.
Ungewöhnlich ist zudem die Aufteilung der Buchseiten auf zwei Zeithorizonte. Links lesen wir, was in der Gegenwart geschieht, rechts in blasserer Schrift die Erinnerung an Ananke und die anderen. Das ist für den Leser dann besonders ungewohnt, wenn er einem Erzählstrang auf der Rechten über zweieinhalb Seiten folgt und zurückblättern muss, um zu sehen, was auf der Linken in kürzeren Segmenten abgehandelt worden ist.
Erst zum Finale, nach 150 Tagen ohne Ananke, wird diese Zweiteilung aus gutem Grund aufgegeben. Da stellt Vienna fest: „das geht so nicht weiter, das macht uns kaputt.“ Sie entwickelt eine „fantastische idee“: eine Expedition in den Süden, erst in einem entwendeten alten Mercedes und dann, weil man mit dem „Adenauer“ nicht an der Grenze auffallen möchte, weiter im Zug. Ein Roadtrip in eine neue Zukunft.
Die Schweizerin Anna Stern, 1990 in Rorschach am Bodensee geboren, schildert einnehmend, zuweilen soghaft eine tiefe Freundschaft. Da macht der Verlust zuweilen sprachlos, so dass manche Sätze nur begonnen, aber nicht zu Ende gebracht werden können. Immerhin ist das Schreiben eine Stütze: „erst jetzt, nach anankes tod, finden dich die worte so, wie du dir das immer vorgestellt hast.“ Es ist ein neues Schreiben: „deine bisherigen texte waren nur raffiniert konstruierter plot ohne substanz, jeder satz mit so viel geduld und umsicht redigiert, dass deine geschichten teflon glichen; nicht spiegel für den leser, nicht fenster in eine neue welt.“
Ja, die erzählende Person sagt nicht „ich“, sondern „du“. Eine Art von Distanzierung, könnte man meinen, aber sicher sind wir da nicht. Fest steht allerdings, dass hier feinporig erzählt wird. In einem sanften, melancholischen, poetischen Ton: „mir ist, als wärs erst gestern gewesen, sagt eden, und obwohl du nicht weißt, wovon eden spricht, nickst du, denn: es spielt keine rolle, wovon eden spricht: es ist alles, als wäre es erst gestern gewesen. Oder erst morgen.“
Wo Freundschaft war und Verlust ist, waltet die Angst, das Erlebte zu vergessen. Doch man kann nicht alles in der Erinnerung festhalten: „die bilder werden unscharf an den rändern“. Anna Stern, die an der ETH Zürich im Fach Biologie „doktoriert“, steuert dazu einige naturwissenschaftliche Erkenntnisse bei. Ihr Roman legt nahe, dass man das Vergangenen auch mal vergangen sein lassen muss, um die Gegenwart nicht zu verlieren. Im Sinne des Buchtitels: „das alles hier, jetzt“.
Martin Oehlen
Anna Stern: „das alles hier, jetzt“, Salis Verlag, 242 Seiten, 24 Euro. E-Book: 17,99 Euro.
