Kasperl unterm Hakenkreuz: Thomas Hettche legt mit „Herzfaden“ den Roman der Augsburger Puppenkiste vor

Foto: Bücheratlas

Auf dem Dachboden sind die Puppen los. Nicht nur die Prinzessin Li Si, der alte Storch und der Kater Mikesch geben sich die Ehre. Sogar die komplette Blechbüchsenarmee tritt an. Das Mädchen aus unserer Zeit, das in diesen Märchentraum geraten ist, kommt aus dem Staunen nicht heraus. Und dann begegnet ihr auch noch die Frau, die all diese Puppen geschnitzt hat, als Zeitzeugin aus der Vergangenheit: Hannelore Oehmichen. Hatü – wie sie genannt wird – ist die Tochter von Walter Oehmichen, der ursprünglich Schauspieler am Augsburger Theater war und im Zweiten Weltkrieg das Puppentheaterspiel für sich entdeckt hat. Mit seiner Augsburger Puppenkiste machte er so sympathische Gestalten wie das Urmel und den Scheinriesen, Jim Knopf und Lukas den Lokomotivführer bekannt im Land.  

Thomas Hettche nimmt die Augsburger Puppenkiste zum Anlass, ein kleines, aber reizvolles Kapitel aus der deutschen Kultur- und Zeitgeschichte zu erzählen. Auf zwei Ebenen, farblich abgesetzt in Blau und Rot, mischt er die realistische Erzählung mit dem Traumspiel auf dem Dachboden. Hettches Menschen-Marionetten-Dialog liest sich leicht und bietet einen intensiven Einblick in die Entstehung der Puppenkisten-Legende. Auch überzeugt er mit Szenen aus der NS-Zeit und der frühen Nachkriegsjahre, als „das“ Fernsehen die Puppen entdeckt.

Immer wieder wird die Märchenwelt der Marionetten mit der Schreckenswelt des Nationalsozialismus kontrastiert – und der Kasperl spielt dabei eine besondere Rolle. Es war eine Zeit, als sich die Menschen – der naheliegende Gedanke sei formuliert – wie Marionetten an Fäden führen ließen. Zumal der Rassenwahn wird im Roman vielfach angesprochen. Die Oehmichen-Töchter Hatü und Ulla erweisen sich als aufgeweckte und sensible Kinder, die großen Anteil nehmen am Leid der Verfolgten und viel mitbekommen von Ausgrenzung und Deportation der jüdischen Bevölkerung. Manchmal hat man allerdings den Eindruck, der Autor dichte Hatü zu viel des politisch Korrekten an. Auch das zwölfjährige Mädchen der Traumsequenzen, das mit iPhone in der Gegenwart lebt, stellt erstaunlich erwachsen klingende Fragen: „War Ihr Vater ein Nazi?“

Hettche lässt auch das kulturelle Umfeld jener Jahre aufblitzen. Erich Pabst, Fritz Lang und Thomas Mann kommen vor. Bert Brecht darf in einem Roman über Augsburg nicht fehlen. Dann ist von Romy Schneider die Rede. Es fällt der Name des Fernsehregisseurs Fritz Umgelter. Peter Frankenfeld tritt – selbstverständlich großkariert – in Schwarzweiß auf.

Vor allem aber zeichnet Thomas Hettche gewissenhaft den Weg nach vom ersten Puppenspiel in Calais über den in einer Bombennacht verbrannten Puppenschrein bis zur fernsehrelevanten Augsburger Puppenkiste. Damit hat es „Herzfaden“ auf die Shortlist zum Deutschen Buchpreis geschafft. Mal sehen, ob die Blechbüchsenarmee zum Sieg wird aufspielen können.

Martin Oehlen

Thomas Hettche: „Herzfaden“, Kiepenheuer & Witsch, 286 Seiten, 24 Euro. E-Book: 19,99 Euro.

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