
Das Figuren-Programm aus Honoré de Balzacs „Die menschliche Komödie“ ist im Maison Balzac in Paris zu besichtigen. Foto: Bücheratlas
Honoré de Balzac (1799-1850) hat Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) vom Kopf auf die Füße gestellt. Nicht den Dichter höchstselbst und auch nicht dessen komplettes Werk. Doch immerhin ist eine Verwandlung bei dem einen oder anderen Motiv aus dem Kosmos des Weimaraners zu erkennen. So stellt es Markus Schwering, der Vorsitzende der Kölner Goethe-Gesellschaft, in einem Video-Vortrag dar. Ursprünglich sollte das Verhältnis zwischen dem großen Franzosen und dem großen Deutschen in einer regulären Abendveranstaltung am 27. Mai 2020 beleuchtet werden. Doch nun sorgen die pandemischen Umstände dafür, dass der Vortrag nur im Netz, aber immerhin schon jetzt und jederzeit zu sehen ist.
Der alte Goethe schätzte den jungen Balzac, erfahren wir. Zumindest hat er sich über „La Peau de chagrin“ („Das Chagrinleder“) lobend geäußert, das er kurz vor seinem Tod im französischen Original gelesen hatte. Es sei bei allen Einwänden unmöglich, so schrieb Goethe in einem Brief, „die ungemeine Begabung des Autors zu verkennen.“
Auch Balzacs Respekt vor Goethes Dichtung war erheblich. Ja, er gab sogar vor, mit dem deutschen Kollegen und Lord Byron um den ultimativen Dichter-Lorbeer zu ringen. Vor allem aber finden sich Goethe-Motive in Balzacs monumentalem Prosa-Zyklus „La Comédie humaine“ („Die menschliche Komödie“).
Ausführlich widmet sich Markus Schwering den Motiven aus „Faust“ und „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, so dem Teufelspakt und der Ich-Werdung. Die hat er in den Balzac-Romanen „Das Chagrinleder“, „Die Suche nach dem Absoluten“ , „Modeste Mignon“ und zwei Erzählungen aufgespürt. Begebe man sich erst einmal auf die Suche, so sagt er, meine man „auf Schritt und Tritt“ auf diffus verwandelte Goethe-Figuren zu stoßen – auf Tasso, Werther, Gretchen und Co. Allerdings seien die Motive wie die Personen stark variiert worden und zielten auf die französische Gesellschaft um 1830. So sei bei Balzac das Geld „der neue Mephisto“.

Markus Schwering spricht über Balzac und Goethe. Screenshot: Bücheratlas
Für die Rezeption der deutschsprachigen Literatur in Frankreich hat Madame de Staël (1766-1817) mit ihrem Bestseller „De l’Allemagne“ („Über Deutschland“) viel bewirkt. Vor dieser Veröffentlichung habe man in Frankreich geglaubt, erläutert der Goethe-Experte, nebenan im waldreichen Osten liefen die Menschen in Bärenfellen umher und traktierten einander mit Morgensternen. Als die Baronin höchstselbst in Weimar weilte, hat ihr selbstbewusst-unbeschwertes Auftreten die dortige Szene strapaziert. Schiller schrieb an Goethe, lästig sei „die ganz ungewöhnliche Fertigkeit ihrer Zunge, man muss sich ganz in ein Gehörorgan verwandeln, um ihr folgen zu können.“ Markus Schwering kommt zu dem Schluss, dass Germaine de Staël den Herren „auf den Zeiger“ gegangen sei.
Der komplette, 82 Minuten dauernde Vortrag lässt sich online abrufen. Ob auch die nächste Veranstaltung der Kölner Goethe-Gesellschaft am 26. Juni – Prof. Rudolf Drux möchte dann über die Darstellung des „Originalgenies“ in Goethes Sturm- und Drang-Hymnen referieren – ins Netz verschoben wird, ist noch ungewiss. Einstweilen empfiehlt die Gesellschaft, gesund zu bleiben und zitiert ihren wichtigsten Gewährsmann: „denn Gesundheit (…) müsse man doch immer am höchsten halten.“
Martin Oehlen
Der Vortrag ist zu finden auf der Homepage der Kölner Goethe-Gesellschaft: http://www.goethegesellschaft-köln.de
Das Museum „Maison de Balzac“ und der dazugehörige kleine Garten in der Rue Raynouard 47 in Paris sind derzeit geschlossen. Voraussichtlich am 16. Juni 2020 werden sie wieder zugänglich sein.