Anna Katharina Hahns wunderbarer Roman „Aus und davon“ über vier Frauen im Familiengulasch (mit Pietkong-Würze)

2020-05-19 (9)

Anna Katharina Hahn bei der Buchpremiere am Dienstag – nicht live im Stuttgarter Literaturhaus, sondern im Live-Stream aus einem Hörfunkstudio des SWR. Autorin und Moderatorin Katharina Borchardt sind coronabedingt durch eine Glaswand getrennt – daher die Spiegelung. Screenshot: Bücheratlas

Schon im ersten Satz klebt ein Pfannkuchen an der Decke. Und danach geht es nicht viel entspannter zu in der schwäbischen Familiengeschichte „Aus und davon“. Von vier Frauen aus vier Generationen ist die Rede. Von Gertrud, die 1923 als junges Mädchen zu Verwandten in die USA geschickt wurde und nach allerlei Plackerei mit dem strenggläubigen Verlobten Alfred die Heimreise antrat. Von ihrer Tochter Elisabeth, deren Ehemann Hinz gerade mit einer Neuen getürmt ist, nachdem er sich von seinem Schlaganfall ein wenig erholt hat. Weiterhin geht es um Elisabeths Tochter Cornelia, die nach der Trennung von Dimitrios eine Auszeit in den USA nimmt. Und schließlich lernen wir Cornelias Tochter Stella kennen, die Liebeskummer hat, weil ihr Freund Hamid nach Berlin gezogen ist. Viel Familie und viel Beziehungskummer also – das stimmt. Aber es passt alles.

Anna Katharina Hahn entwickelt Schritt für Schritt ihre spektakulär unspektakulären Alltagsszenen. Sie schaut sehr genau hin, meidet beharrlich das Klischee, findet sprachlich feine Lösungen, bietet reichlich Stoff. Die kleinen Dramen in diesem „Familiengulasch“ werden so knapp wie treffend geschildert. Für Larmoyanz ist hier kein Platz, aber allemal für Empathie angesichts der Fluchten und Trennungen.

Der Roman hat seine Basis im Jahre 2017 in Stuttgart, als Cornelia in die USA aufbricht und Mutter Elizabeth auf die Enkelkinder Stella und Bruno aufpassen soll. Allerdings gibt es noch ein paar Zeitebenen mehr. Die unterschiedlichen Perspektiven werden reizvoll genutzt, um alternative Sichtweisen zu vermitteln. Zumal Elisabeth und Cornelia, die im Zentrum stehen, bieten ein schönes Kritik-Pingpong. Auch mal mit heftigem Aufschlag: „Ich komme mir vor wie ein Arschloch“, sagt Cornelia eingedenk der Mutter, „aber ihre Schwäche zu sehen fühlt sich jedes Mal an wie Nutella auf warmem Toast.“ Mütter und Töchter, eben.

Eine Stimme hat hier auch der alte und doch ewig junge Linsenmaier. Dabei handelt es sich um eine mit Linsen gefüllte Puppe, die schon mit Gertrud in Amerika gewesen ist und in der Gegenwart beim übergewichtigen Bruno landet. Ein wahres „Trösterle“, der viel gesehen hat. Nur vom Weltkrieg hat er nichts mitbekommen, nur ein paar harte Einschläge, denn jene Jahre verbrachte er in einem Schrank. Was Linsenmaier so alles erlebt hat, trägt Elisabeth in zwei Hefte ein. Ansonsten spielen die Männer in diesem Roman keine tragenden Rollen – der Junge namens Bruno will ja noch einer werden.

Allemal wird deutlich, dass die Frauen zur Stelle sind, wenn es drauf ankommt. Selbst Teenager Stella würde wohl vom Zicken ablassen, wenn einmal der Kittel brennt – so eine Redewendung, die Hahn hier transportiert. Ganz offenbar spielt bei diesem Pflichtbewusstsein die pietistische Prägung eine Rolle. Allerdings ist diese Glaubens-Variante auch eine elende Pein, eine Gefangenschaft, was Elisabeth vor Augen führt. Schon als Kind hatte ihr Vater gemahnt, nicht zu oft mit ihrer Puppe, eben jenem Linsenmaier, zu spielen: „Jedes Mal, wenn du auf etwas verzichtest, das dir gefällt, machst du dem Heiland eine Freude.“ Sich einfach mal zu entspannen, geht für die erwachsene Elisabeth gar nicht. Immer muss etwas geschafft werden. Und spröde ist sie, wenn ihr Mann intim wird. Hinz bilanziert früh: „Deine größte Freude ist das nicht, mein Schatz, oder?“ Da wird der Pietismus zum „Pietkong“.

Der Roman bietet beste Unterhaltung. Auch dort, wo er den Dialekt aufleben lässt. Wenn Cornelias Ex das Geld für die Kinder nur „kleckerlesweise“ zahlt oder die Eli-Oma zu den Enkeln sagt, sie seien wohl „nicht ganz knuschper“. So können wir, was diesen Roman angeht, nur anerkennend ausrufen: „Herrschaft Sechser!“

Martin Oehlen

Lesungen

Die erste Lesung von Anna Katharina Hahn aus „Aus und davon“ im öffentlichen Raum findet nach jetzigem Stand am 9. Juni 2020 um 19.30 Uhr im Literaturhaus Köln (Großer Griechenmarkt 39) statt. Moderation: Johannes Schröer (domradio).

Die Buchpremiere veranstaltete am Dienstag, 19. Mai 2020, das Literaturhaus Stuttgart gemeinsam mit dem SWR als Online-Lesung.

Anna Katharina Hahn: „Aus und davon“, Suhrkamp, 308 Seiten, 24 Euro. E-Book: 20, 99 Euro.

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