
Alles in feinster Ordnung, so scheint es. Aber was wird sein, wenn hier ein paar Geister die Regie übernehmen? Foto: Bücheratlas
Wenn eine „Pfingstrosenlaterne“ im Titel leuchtet, dann mag man sich ja kaum etwas anderes vorstellen als ein besinnlich-stilles Prosawerk. Aber wie das mit den Vorstellungen so ist: Unverhofft kommt oft. In diesem Fall haut ein Samurai der Güteklasse A gleich zu Beginn einen betrunkenen Pöbler buchstäblich in Stücke – einmal links, einmal rechts und dann noch ein Hieb zum irdischen Finale. Dabei beeindruckt nicht nur die Seelenruhe, mit der dieser Krieger seine Ehre bewahrt. Auch erstaunt nicht wenig, dass er mit der Tat bei allen zuständigen Ordnungsstellen auf vollkommenes Verständnis stößt. So sieht es also aus im alten Japan des 17. Jahrhunderts.
Allerdings hält der Dichter Sanyutei Encho (1839-1900) für den Samurai doch noch eine unangenehme Überraschung bereit, die er in staunenswerter Ruhe zur Kenntnis nimmt, obgleich sie dazu führt, dass er – nein, diese Finesse soll nicht verraten werden. Es ist eine wunderbar vertrackte Geschichte, die der japanische Erzähler hier ausbreitet. Sie ist angesiedelt in einer Zeit, als der Unterschied zwischen Herrn und Knecht zuweilen gleichbedeutend war mit dem Unterschied zwischen Leben und Tod. Es geht um eherne Moralapostel und miese Fallensteller, um schlagfertige Krieger und außergewöhnliche Frauen, um Liebe und Blutrache – und um Geister.
Ja, den prickelndsten Kick erhält dieser unterhaltsame Roman dadurch, dass eine verstorbene Schönheit als verliebter Geist in die Welt der Lebenden zurückkehrt. Ihre Dienerin, ebenfalls nicht mehr aus Fleisch und Blut, steht ihr bei der Kontaktaufnahme mit dem Geliebten von einst zur Seite. Solcherart bringt das Duo die fest gefügte Ordnung durcheinander. Das war damals und ist heute amüsant und abwechslungsreich. Vor allem erstaunt bei der Lektüre, dass dieses Miteinander von Realem und Surrealem bald schon ganz selbstverständlich wirkt. Gut möglich, dass Haruki Murakami hier eine frühe Prägung für die Anlage seiner Romane gefunden hat.
Das Tempo, in dem die Schauplätze und Motive gewechselt werden, ist auf der Höhe unserer serienseligen Gegenwart. Das ist gewiss der Tatsache geschuldet, dass Sanyutei Encho seine Geschichte mündlich vorgetragen hat. Wer als sogenannter Rakugo vor Publikum auftrat, konnte sich halt keinen dramaturgischen Durchhänger leisten. Zwar war der Begriff „Cliffhanger“ in der Edo-Zeit noch nicht geprägt. Aber den Trick, um die Spannung von Kapitel zu Kapitel hochzuhalten, beherrschte man damals schon sehr gut.
So lädt „Die Pfingstrosenlaterne“ nicht nur zur Besichtigung einer vergangenen Welt ein. Auch bietet sie ein fantastisches Lesevergnügen. Zudem birgt diese neue Ausgabe dank der einerseits dezenten, andererseits expressiven Holzschnitte von Franziska Neubert eine zusätzliche Attraktion. Ein hilfreiches Nachwort steuert Martina Schönbein bei. Es gibt also viele Gründe, diesen Schatz aus der Anderen Bibliothek nicht so schnell aus der Hand zu legen. Aber – nehmen Sie jetzt noch, wenn Sie mögen, den letzten Absatz zur Kenntnis.
Die Gespenstergeschichte habe ich im Thalys nach Paris gelesen. Und dort im tiefen Fach vor mir – Wagen 25, Platz 88 – vergessen. Zwei Tage später habe ich voll der Hoffnung im Gare Du Nord nachgefragt. Dort, wo es um „objets trouvés“ geht. Die Dame im Büro im Untergeschoss des von einem Streik aufgewirbelten Bahnhofs fragt noch einmal nach: „Ein Buch?“ Ja, genau. „Und die Farbe?“ Blau. „Und jetzt noch den Titel!“ Gerne: „Die Pfingstrosenlaterne“ – hineingesprochen in die Geräuschkulisse eines emsigen Bahnhofs, klingt es angenehm bizarr. Dann das: „Nein, das Buch ist nicht gefunden worden.“ In Wahrheit ist überhaupt kein Buch im Computer vermerkt, wie eingeräumt wird. Ob blau oder nicht blau. Ob mit oder ohne Pfingstrosenlaterne. „Je suis desolé“, sagt die Dame. Ich bin’s auch.
Martin Oehlen
Sanyutei Encho: „Die Pfingstrosenlaterne“, dt. von Ingo Böhm, Die Andere Bibliothek, 336 Seiten, 44 Euro.