Dies ist eine Reise ans Ende der Welt und wieder zurück. Durchs Elsaß, die Auvergne und Aquitanien, durch Spaniens starken Norden übers Baskenland und Galicien bis nach Finis terrae, dann zurück über die Provence und den Kanton Freiburg. Sächliches und Nebensächliches in loser Folge.

Von der Porta do Camino in Santiago de Compostella sind es nur noch wenige Meter bis zum Ziel des wochenlangen Pilgerns. Die Muschel am Rucksack zeigt, in welcher Mission der Wanderer beziehungsweise die Wanderin unterwegs ist. Foto: Bücheratlas
Das ist das Ziel. Der Platz vor dem Dom von Santiago de Compostella. Nach Wochen, nach Monaten der Wanderschaft in Hitze und Regen, auf steilen Anstiegen und vorbei an Autobahnkreuzen, durch Ginstergelbwälder und Schneetreiben aus Pappelflocken. Auf Wegen, die teilweise so stark frequentiert sind wie der letzte Anstieg zum Mount Everest. Nach Zweifeln und Anstrengung, nach Blasen am Zeh und Stichen im Knie. Zahlreich sind die Verbände, die auf nackten Beinen zu sehen sind. Die Apotheken haben auch sonntags geöffnet. Spezialgebiet: „Ortopedia“. Massageangebote immer wieder. Der Gepäcktransport von Unterkunft zu Unterkunft für die Bequemen oder die in irgendeiner Weise Behinderten ist möglich, aber nicht die Regel. Die meisten wandern, einige radeln, wenige sind auf Rollerblades oder zu Pferde unterwegs. In einer Kirche nicht weit vor Santiago wird der Pilger gedacht, die auf dem Jakobsweg gestorben sind. Nicht gerade wenige. Und dann ankommen. Das Grande Finale.
Manche liegen stundenlang auf dem Platz. Immer mit einem Blick auf die, die gerade eintreffen. Als erstes hören wir den Ausspruch einer jungen Frau, die ihr Glück nicht fassen kann: “ Holy Shit!“ Eine Amerikanerin, glauben wir, ruft: „Mission accomplished.“ Dann das Wiedersehen: „Oh Leute, nein!“ ruft eine Frau, als sie eine Gruppe entdeckt, die sie vor längerer Zeit getroffen hat. Dann fällt sie ein in ein hysterisches Weinen. Die Gruppe tröstet, lacht. Ein Quartet aus Mexiko wickelt sich in ihre Landesflagge. Ein ältere Dame sagt zu einer jüngeren Dame: „We keep in touch!“ Jemand will es wissen: „Warst Du in Sandalen unterwegs oder in Wanderschuhen?“
Dann die Deutschen vor dem Pilgerbüro, wo es die alles entscheidende Urkunde gibt, den Weg tatsächlich gegangen zu sein: „Mit niemandem hätte ich es so lange ausgehalten!“ sagt eine. Ein anderer ruft: „Auf unseren Hermann!“ Aber da wird dann kein Getränk spendiert, sondern die Parole ausgegeben: „Mal kurz kuscheln!“ Schon bildet sich ein Kreisz verschwitzter Leiber. Glückstränen, auch mal begeistertes Gebrüll. Hermann guckt verlegen, aber sieht höchst einverstanden aus. Zurück auf dem Dom-Platz gibt ein Österreicher bekannt, wie der Moment einzuschätzen sei: „Wenn du zum Petersdom hingehst, ist das im Vergleich zu dem ein Scheißdreck, denn hier sind wir hergewandert.“ Nebenan informiert jemand per Skype: „Wir sind spitze drauf!“ Es ist eine allgemeine emotionale Kerrschmelze.
Es sind noch Zimmer frei. Spanierinnen bieten hier ihre Unterkünfte an. Taxieren die Pilger, scheinen zu wissen, auf welche Klientel sie zu achten haben. Plötzlich unterbricht ein Pilger das Gespräch zwischen einer Wirtin und ihrem potentiellen Kunden: „Das muss ich sagen – diese Dame hat mir vor zwei Jahren ein Zimmer für eine Nacht angeboten. Dann traf ich in ihrer Pension eine Frau, mit der ich heute verheiratet bin. Also, passen Sie auf! Wenn es heißt für eine Nacht, kann es für ein ganzes Leben sein.“ Die Vermieterin, vielleicht 40 Jahre alt, reibt sich verlegen lachend übers Gesicht. Leider wissen wir nicht, ob der Kunde dies als Warnung verstanden hat oder als Ermunterung.

Das Seil, an dem das Botafumeiro hängt, bleibt während der Sanierung der Kathedrale fest verknotet. Foto: Bücheratlas
Die Kathedrale selbst ist ein Mythos, auch wegen des gewaltig ausschwingenden Weihrauchfasses, des Botafumeiros. Aber als wir eintreten, sehen wir vor allem Plastikfolien. Sanierung allenthalben. Die Not, ein plastikplanenfreies Fotomotiv zu finden, ist vielen Besuchern ins Gesicht geschrieben. Im Bücherregal des Souvenirshops ein Gesicht, das wir kennen: „Je pars“ von Hans-Peter Kerkeling beziehungsweise „I’m off then“ von Hape Kerkeling. Der Mann hat was dafür getan, dass die Pilgerwege etwas voller geworden sind.
Auch das noch
Mal nichts Religiöses, auch wenn der Weg ins Kloster Santo Domingo de Bonaval führt. Darin untergebracht ist das Museo do Pobo Galego. Ein Heimatmuseum des galicischen Volkes mit einer schwindelerregenden Wendeltreppe. Zahlreiche Exponate führen das Alltagsleben in vergangenen Zeiten vor Augen: vom Kopfschmuck bis zum Ackerpflug, von Booten bis zu Bauformen, von Klangproben bis zur Schafsschur. Nach all der Pilgerverzückung wirkt dieses Museum erfreulich bodenständig. Eintritt: 3 Euro.

Kopfschmuck-Optionen für eine Galicierin in alten Zeiten. Foto: Bücheratlas
Übernachten
*** Das Hotel Araguaney bietet plüschige Eleganz. Es neigt im Erdgeschoss zur Wandmalerei und bietet Kunst auf allen Fluren. Kurze Distanz zur Altstadt, so dass der Wagen in der Tiefgarage bleiben kann. Sehr guter Gesamteindruck.
PS: Alle Übernachtungs-Tipps sind ohne Kenntnis oder gar Unterstützung der betroffenen Unterkünfte recherchiert und verfasst worden. Die Wohlfühl-Sterne: * ordentlich ** gut *** sehr gut **** überragend ***** außergewöhnlich.

Wandmalerei im Erdgeschoss des Hotels Foto: Bücheratlas
Martin Oehlen