
Heute so und gestern anders – vom freiwilligen und unfreiwilligen Entschwinden handeln Jochen Schimmangs Erzählungen. Die beiden Giraffen, die hier der Veranschaulichung dienen, sind im Natural History Museum in London stationiert, das – diese Abschweifung sei erlaubt – immer wieder einen Besuch lohnt. Foto: Bücheratlas
„Die Abwesenden sind ein Kaliber für sich“, sagt Valerie Voss. „Auf mich üben sie eine besondere Anziehungskraft aus, eben weil sie nicht da sind und ich sie unter Umständen auch nie kennenlernen werde.“ Die „Abwesenheitspflegerin“ Valerie Voss ist eine der Figuren, die Jochen Schimmang in seinen neuen Erzählungen „Adorno wohnt hier nicht mehr“ auftreten lässt. Allesamt sind es Geschichten vom Verschwinden und Vergessen, von der Vergänglichkeit. Dass sie leicht melancholisch eingefärbt sind, liegt in der Natur der Sache. Sie haben aber auch komische Seiten. Ja, ein melan-komisches Buch ist das geworden.
Schimmang präsentiert seine Prosa in sehr unterschiedlichen Verpackungen. Da geht es mal beckettisch um eine „Endspielmaschine“, die auf alle Menschheitsfragen die richtige Antwort weiß, diese allerdings so schnell vom Display verschwinden lässt, dass sie nicht erfasst werden können. Noch schöner liest sich die Absurdität um ein Künstler-Paar, das sich auf dem Dachboden seines norddeutschen Anwesens versteckt vor den aus allen Himmelsrichtungen herbeiströmenden Gratulanten anlässlich des 70. Geburtstag des Hausherrn. Dann wähnt man sich in gepflegten Kriminalfällen, in denen es einmal darum geht, das Verschwinden des Malers Robert Guthermuth und ein anderes Mal das des städtischen Kulturangestellten Jan Rothermund zu klären. Klar, dass die Fälle miteinander in engster Verbindung stehen. Eine weitere Variante ist das fiktive Interview mit einem Schriftsteller, der Auskunft geben soll über Wesen und Wirken des berühmten „Herrn Rutschky“. Allemal verbunden mit der Frage: Was bleibt?
Eine weitere Spurensuche steht im Zentrum des Bandes und ist die mit weitem Abstand längste Erzählung: „Adorno wohnt hier nicht mehr“. Es ist eine literarische Reportage, in der jene Orte in Frankfurt am Main aufgesucht werden, an denen der Philosoph und Soziologe gelebt und gewirkt hat: der Wohnort, das Institut, die Ampel, für deren Einrichtung sich „Teddie“ eingesetzt hatte. Adornos Satz „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ wird einem Pro-und-Contra-Disput unterzogen. Der Erzähler bekennt, dass er stets gedacht habe, „es ist der einzig unumstößliche Satz, dem ich in meinem Leben begegnet bin.“
Dass diese Geschichte durchaus autobiographische Akzente hat, eine Spurensuche in eigener Sache ist, nehmen wir an. Aber das ist nicht weiter wichtig für einen Text, der auf liebevoll-nostalgische Weise an eine intellektuelle Blüte in Frankfurt am Main in den 60er und 70er Jahren erinnert. Nicht nur wegen Adornos Strahlkraft, sondern auch wegen des Suhrkamp-Verlags. Damals das Nonplusultra der zeitgenössischen Literatur. Wo der Verleger Siegfried Unseld, der Illustrator Willy Fleckhaus oder die Sekretärin Burgel Zeeh Legendstatus besaßen. All das ist für den Erzähler mehrfach Anlass zum Bedauern darüber, nach Berlin umgezogen zu sein. Dort habe er sich kommunistischen Gruppierungen zugewandt, sei zu einem „leninistischen Kader“ mutiert. Wäre er doch in Frankfurt geblieben.
Jochen Schimmang erzählt anregend vom Verschwinden, dem freiwilligen wie dem unfreiwilligen. Vom Abtauchen und Vergehen. Es ist ein feines, auch verspieltes Prosa-Potpourri mit vielen Abwesenden.
Martin Oehlen
Jochen Schimmang: „Adorno wohnt hier nicht mehr“, Edition Nautilus, 206 Seiten, 20 Euro. E-Book: 15,99 Euro.