
Die Rezensentin bei der Hintergrundrecherche zu Peter Careys Roman Foto: Bücheratlas
Er habe sich lange davor gedrückt, über die Unterdrückung der Ureinwohner und den Rassismus in seinem Land zu schreiben, bekannte Australiens bester Gegenwartsautor in einem Interview in der Tageszeitung „The Australian“. Ganz einfach, weil er geglaubt habe, es stehe einem Weißen nicht zu, aus dem Leid der Aborigines eine Story zu machen. Erst mit mehr als 70 Jahren änderte Peter Carey seine Meinung. Und schrieb einen Roman über einen Mann, der mit Mitte 20 entdeckt, dass er ein „Halbblut“ ist: der Sohn von Big Kev Little, dem Boss einer westaustralischen Rinderfarm, und Polly, einer blutjungen Aborigine, die dem Farmer zu Willen sein musste. Man könne als weißer Autor nicht ein Leben lang den wichtigsten Aspekt in der Geschichte Australiens ignorieren, erklärt Carey seine Kehrtwende. „Dass Menschen wie ich, dass wir alle die Profiteure eines Genozids sind.“
„A long way from Home“ – in der deutschen Übersetzung ist daraus der irreführende Titel „Das schnellste Rennen ihres Lebens“ geworden – ist Careys 14. Roman und das wohl Beste, was der zweifache Träger des Booker-Preises seit vielen Jahren geschrieben hat. Ein breit erzähltes, trotz seiner Thematik unterhaltsames und humorvolles Epos, das seine Leser einmal rund um den fünften Kontinent führt. Man schreibt das Jahr 1953. Auch in Bacchus Marsh, einer Kleinstadt bei Melbourne, hat der Zweite Weltkrieg seine Spuren hinterlassen. Menschen wie Willie Bachhuber, der sein blondes Haar und seinen Nachnamen auf deutsche Vorfahren zurückführt, sind hier nicht wohl gelitten. „Kraut“ nennen die Alteingesessenen den junge Lehrer, der sich in seiner Freizeit ein Zubrot in einer Quizsendung verdient.
Bachhuber, Sohn eines Pfarrers aus Adelaide und einer der beiden Ich-Erzähler des Romans, ist kein glücklicher Mensch. Frau und Kind hat er verlassen, als die junge Ehefrau ein dunkelhäutiges Baby mit störrischen schwarzen Haaren zur Welt brachte, das nicht von ihm sein konnte. Jetzt lebt er inmitten von Büchern und Landkarten allein in einer Bruchbude von Haus, stets auf der Flucht vor der Polizei, die ihn wegen ausbleibender Unterhaltszahlungen im Gefängnis sehen möchte. Seinen Job als Lehrer verliert er, nachdem er einen renitenten Schüler an den Beinen aus dem Fenster gehalten hat. Die Beziehung zu seiner Quizpartnerin zerbricht.
Das Leben des Willie Bachhuber scheint sich erst zu berappeln, als Familie Bobs in das Nachbarhaus zieht. Titch Bobs will in Bacchus Marsh einen Autohandel aufziehen. Ihm zur Seite steht Ehefrau Irene, ein winziges Persönchen, das energisch den Familienalltag managt. Sie ist die zweite Ich-Erzählerin des Romans. Doch Titchs Traum, sich als Vertreter von Ford in der Kleinstadt zu etablieren, scheitert. Stattdessen bekommt der „beste Autoverkäufer in den ländlichen Regionen des gesamten Staats“ ein Angebot von General Motors zum Verkauf der Automarke Holden – und die Chance, zusammen mit Irene am „Redex Reliability Trial“, dem härtesten Autorennen Australiens, teilzunehmen. Titch bittet Bachhuber, als Navigator mitzufahren.
Er könne sich noch gut an die Aufregung über das „Redex“ erinnern, erzählt Carey, der 1943 in Bacchus Marsh geboren wurde. „Jeder sprach davon.“ Das spektakuläre Rennen fand 1953 zum ersten Mal statt. Die Strecke betrug 10 500 Kilometer. Ein Jahr später müssen das Ehepaar Bobs und sein Navigator innerhalb von 18 Tagen bereits 15 000 Kilometer bewältigen und dabei fast ganz Australien umrunden.
Carey kehrt in diesem Roman zu den Ursprüngen seines literarischen Schaffens zurück. Schon in seinen ersten Romanen, dem Schelmenstück „Illywhacker“ (1985) und „Oscar und Lucinda“ (1988), erweist er sich als brillanter Chronist des australischen Lebens. Im Zentrum jener ersten Bücher, allesamt opulente Liebeserklärungen an sein Land, stehen die Menschen und die Landschaft. Im Jahr 2000 folgt „Die wahre Geschichte von Ned Kelly und seiner Gang“. Carey arbeitet darin die Lebensgeschichte des berühmtesten Gesetzlosen Australiens auf, der 1880 in Melbourne den Tod durch den Strang fand.

Asphaltfreie Straße im australischen Outback Foto: Bücheratlas
Mit „Das schnellste Rennen ihres Lebens“ liefert der Autor quasi den Unterbau zu der „weißen“ Geschichte Australiens nach, der bislang sein Hauptaugenmerk galt: ein fehlendes Puzzleteil, ohne das das Ganze nicht denkbar wäre. Willie Bachhuber nämlich, jener schlaksige Blondschopf, hat beileibe keine deutschen Vorfahren. Und seine Haut, die im Sommer „so dunkel wie eine Rosine am Mittelmeer“ wird, verdankt er nicht etwa einem „venezianischen Vorfahr“, wie seine Großmutter behauptet hat, sondern seiner Mutter Polly, der jungen Aborigine, die ihn vor 25 Jahren unter einem Blutholzbaum im Outback zur Welt brachte. Schon bald nach der Geburt wurde das Kind der Mutter von der staatlichen Fürsorge weggenommen und zur Adoption freigegeben.
Langsam nur kommt Bachhuber, der im weißen Süden des Landes aufgewachsen ist, seiner wahren Identität auf die Spur. Je mehr sich die Rallye dem Norden Australiens nähert, desto öfter wird er als „Halbblut“ erkannt. „Bachhuber nie“, radebrecht der erste Aborigine, den er trifft, und fährt ihm grinsend durch das blonde Haar. In Townsville fragt ihn eine Barfrau nach seiner „Bescheinigung“. Ohne die bekomme einer wie er in einem Lokal für Weiße keinen Alkohol. In Darwin schließlich, im äußersten Norden des Landes, eskaliert die Situation. Unverhohlen wird er bei Betreten einer Bar angestarrt. Der Barkeeper verlangt barsch seine „Hundemarke“, ein weiblicher Gast beginnt bei seinem Anblick zu bellen.
Dennoch sperrt sich der junge Mann lange gegen die Erkenntnis, nicht der zu sein, der er ein Leben lang zu sein glaubte: ein Pfarrerssohn mit deutschen Wurzeln, in dessen Zimmer ein Schwarz-Weiß-Bild von einer Burg am Rhein hängt. Plötzlich erklärt sich, warum er keinen Alkohol verträgt. Warum das Kind, das seine junge Frau sechs Jahre zuvor zur Welt brachte, schwarz ist. Was sich nicht erklärt: Wie er mit dieser Erkenntnis umgehen soll. „Ich bin weiß“, wütet er. Weiß wie sein angeblicher Vater in Adelaide, der ihn aus Mitleid und falscher Rücksichtname ein Leben lang belogen hat. Weiß wie die Großmutter, die einen venezianischen Ahnherrn erfand.
Bachhubers Identitätskrise erreicht ihren Höhepunkt, als er die Rallye nach einem Zerwürfnis mit den Bobs verlässt und als Lehrer auf einer abgelegenen Ranch im Outback landet. Hier, erfährt er von den Aborigines, sei er geboren. Hier gehöre er hin. Erst jetzt beginnt er, sich mit seiner Geschichte auseinanderzusetzen und gerät in einen Kulturkonflikt, der durchaus komische Züge hat.
Schonungslos schildert Carey das Schicksal der Ureinwohner, die seit der Landung Thomas Cooks im Jahr 1770 von den weißen Eindringlingen verfolgt und erniedrigt wurden. Systematisch wurden sie ihres Landes, ihres Selbstbewusstseins und ihrer kulturellen Identität beraubt – „Vertriebene“, denen man „den Sinn des Lebens“ genommen hat. „Sie zahlten mir 20 Pfund die Woche dafür, dass ich die Vergangenheit auslöschte, dass ich den Schwarzen das moderne Leben beibrachte und sie so weiß wie nur möglich machte, in der Hoffnung, dass Viehhirten aus ihnen wurden, Hausdiener und Punkawallahs“, konstatiert Bachhuber, der als Lehrer gehalten ist, „keine rückständigen Ansichten“ zu unterstützen.
Peter Carey hat ein gutes, ein mutiges Buch geschrieben. Einen Roman, der das dunkelste Kapitel der australischen Geschichte aufarbeitet. Auch wenn er dafür mehr als 70 Jahre alt werden musste.
Petra Pluwatsch
Peter Carey: „Das schnellste Rennen ihres Lebens“, dt. von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié, S. Fischer, 464 Seiten, 24 Euro. E-Book: 19,99 Euro.