
Einige Mitglieder der Familie Leo zog es nach Palästina – dorthin, wo heute israelische Fahnen flattern. Foto: Bücheratlas
„Eine Familie ist eine merkwürdige Sache“, sagt Maxim Leo. „Man trifft Menschen, die einem ähnlich und doch sehr fremd sind.“ Bei der Hochzeit seines Bruders Moritz vor einigen Jahren sei ihm das so ergangen. „Alles Leos.“ Leos aus Großbritannien, aus Israel, aus Österreich und Frankreich. Leos, deren Urgroß- und Ururgroßeltern wie er selber aus Berlin stammen. In den 1930er Jahren war die jüdische Familie von den Nazis aus Deutschland vertrieben worden. Seitdem sind die Familienmitglieder über die halbe Welt verstreut. Lediglich Leos Großvater Gerhard war nach Kriegsende zurückgekehrt nach Berlin.
Das internationale Sippentreffen sei für ihn der Anstoß gewesen, sich intensiv mit dem mütterlichen Zweig seiner Familie zu beschäftigen, sagt Leo. Daraus ist ein packendes Buch geworden: „Wo wir zu Hause sind. Die Geschichte meiner verschwundenen Familie“.
Leo erzählt darin von seinen Großtanten Ilse, Hilde und Irmgard, die zur Zeit ihrer Vertreibung junge Mädchen und Frauen waren. Akribisch hat der gelernte Journalist deren Schicksale recherchiert und dabei viel über sich selber erfahren. „Es ist ein großes Geschenk, seiner eigenen Herkunft nachspüren zu dürfen“, sagt der 49-Jährige. „Plötzlich erkennt man, dass man gar nicht so einmalig ist, wie man bislang dachte, sondern ein Glied in einer großen Kette.“
Leos Buch entpuppt sich schnell als ein Parforce-Ritt durch die Kriegs- und Nachkriegsgeschichte. Anhand seiner drei Protagonistinnen und deren Nachkommen erzählt er vom Schrecken der Vertreibung und vom Versagen der Franzosen angesichts von zigtausenden jüdischen Flüchtlingen in ihrem Land. Er schildert das harte Leben der ersten Kibbuz-Bewohner, die seelischen Verhärtungen der Verfolgten und die Ängste und psychischen Nöte der zweiten und dritten Generation, die ein Leben lang unter dem Schweigen der Großeltern und Eltern leiden.
Da ist Hilde, die Schauspielerin, die mit ihrem Mann nach Paris flieht und nach dem Scheitern der Ehe mit Sohn André weiterzieht nach London. Sie habe ihn am meisten beeindruckt, erzählt Leo. Eine toughe, fatalistische Frau, die sich nie als Opfer gesehen und stets versucht habe, das Beste aus der jeweiligen Situation zu machen. Hilde stirbt 2009 im Alter von 102 Jahren. André, ein anerkannter Naturwissenschaftler, ist inzwischen weit über 80. Er, sagt Leo, stehe ihm am nächsten.
Hildes Schwester Irmgard muss ihr Jurastudium an der Berliner Universität aufgeben und geht Mitte der 1930er Jahre mit ihrem Mann nach Palästina. Fortan nennt sie sich Nina, und sie wird bis ans Ende ihres Lebens in einem Kibbuz leben.
Ilse, die kleine Cousine von Irmgard und Hilde (und die ältere Schwester von Maxim Leos Großvater Gerhard) wächst behütet in einem Einfamilienhaus im brandenburgischen Rheinsberg auf. Der Vater ist Jurist und glaubt zunächst nicht, dass ihm Gefahr droht von den neuen Machthabern. Er wird schnell eines Besseren belehrt. Dass Walter Leo 1927 einen Prozess gegen Joseph Goebbels gewann, wird ihm ebenso zum Verhängnis wie seine Religionszugehörigkeit. Die Familie flieht nach Paris, Ilse und ihre Vater werden nach Ausbruch des Krieges in Frankreich interniert.
Leo zeigt eindrucksvoll, was es bedeutet, seine Heimat verlassen zu müssen und damit seine Wurzeln zu verlieren. In einer Zeit, da weltweit Millionen Menschen auf der Flucht sind, sind Bücher wie „Wo wir zu Hause sind“ wichtiger denn je.
Petra Pluwatsch
Maxim Leo: „Wo wir zu Hause sind. Die Geschichte meiner verschwundenen Familie“, Kiepenheuer & Witsch, 368 Seiten, 22 Euro. E-Book: 16,99 Euro.
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