
Fotos: Bücheratlas
Eine Kleinstadt in der amerikanischen Provinz. Hier leben Menschen wie Tommy Guptill, der einen Milchbetrieb besaß, bis eines Nachts seine Ställe abbrannten. „Es war seine eigene Schuld gewesen – etwas anderes wäre ihm nie eingefallen –, weil er sich an dem Abend nicht vergewissert hatte, dass die Melkmaschinen alle ordnungsgemäß abgeschaltet waren, und bei den Melkmaschinen war das Feuer ausgebrochen.“ Inzwischen ist Tommy Guptill Rentner. Mehr als 30 Jahre hat er nach dem Brand als Hausmeister an einer Schule gearbeitet. „Es war etwas Beständiges an dem Job, das ihm zusagte.“
An der Landstraße steht das Heim der Bartons, die so arm waren, dass die Kinder im Müll nach Essbaren wühlten. Heute lebt nur noch Pete in dem verwitterten Holzhaus – ein Sonderling, der schwer an der Last seiner Kindheit trägt. „Sein Haar war inzwischen fast vollständig grau, aber es war ein fahles Grau, passend zu den ausgebleichten Schindeln der Hauswand.“ Gelegentlich kommt Tommy Guptill ihn besuchen, und irgendwann erfahren wir, dass Pete, Tommy und dessen Frau Shirley einmal in der Woche in der Suppenküche von Carlisle aushelfen.
Elizabeth Strout ist eine Erzählerin, die sich Zeit lässt, ihre Figuren zu entwickeln. „Alles ist möglich“, heißt das jüngste Werk der Pulitzer-Preisträgerin, die 2007 mit ihrem Episodenroman „Olive Kitteridge“ auch in Deutschland bekanntwurde. Die österreichische Schriftstellerin Eva Menasse schrieb damals über „Mit Blick aufs Meer“, so der deutsche Titel: Dieser Roman leuchte „in einer kunstvollen Mischung aus Humor und Tragik, aus Scharfstellen und Auslassung alle Formen menschlichen Verhaltens dicht und erfahrungssatt aus: Niedertracht und Launen, versäumte Gelegenheiten, Herzensträgheit und Kommunikationsverweigerung, aber auch die kleinen, unerwarteten, kostbaren Glücksmomente“. Seitdem hat Elisabeth Strout, 1956 in Portland, Maine, geboren, die Kunst des Schreibens weiter perfektioniert. In neun Kapiteln erzählt sie in ihrem aktuellen Buch vom Leben auf dem Land, und sie tut das so liebevoll und behutsam, dass man sich am Ende fragte: Warum hat sie nicht noch ein paar Kapitel mehr geschrieben?
Wie „Mit Blick aufs Meer“ ist auch ihr aktuelles Buch ein „Character driven“-Roman. Die Charaktere und nicht der Plot treiben die Handlung voran. Zusammengehalten werden die einzelnen Kapitel durch die Figur der Lucy Barton. Jeder in Carlisle kannte die kleine Schwester von Pete Barton, die heute eine berühmte Schriftstellerin ist. Tommy Guptill erinnert sich, dass er ihr einmal einen Vierteldollar zustecken wollte, den sie nicht annahm. Patty Nicely graust es noch heute, wenn sie daran denkt, wie Lucy gemeinsam mit einem Vetter die Mülltonnen hinter „Chatwin’s Café“ nach Essensresten durchwühlte. Lucy selber tritt erst im sechsten Kapitel des Buches auf, und wir erfahren, dass ihre Kindheit und Jugend noch sehr viel schlimmer war als bislang vermutet.
Und dennoch – Lucy Barton gehört zu denen in Carlisle, deren Träume sich erfüllt haben. Andere haben sich eingerichtet in dem Ort, in dem sie geboren wurden und in dem sie eines Tages auch sterben werden. Und wer aus dem Rahmen fällt – Elgin Appleby beispielsweise, der ein Geheimnis in sich trägt, das sich nur erahnen lässt –, der tut gut daran, die Fassade der Wohlanständigkeit aufrechtzuerhalten.
Elisabeth Strout erweist sich ein weitere Mal als eine großartige Chronistin der Provinz. Sie verschafft all jenen Menschen Gehör, die viel zu bescheiden sind, um über sich selbst zu reden.
Petra Pluwatsch
Elizabeth Strout: „Alles ist möglich“, deutsch von Sabine Roth, Luchterhand, 256 Seiten, 20 Euro. E-Book: 15,99 Euro.