
Wer hat es getan? Das ist eine zentrale Frage in Maxim Billers neuem Roman „Sechs Koffer“. Es geht dem Autor um die Wahrheit, die ja durchaus eng mit der Gerechtigkeit verbunden ist. Manchmal scheint sie – die eine wie die andere – unerreichbar fern. Fotos: Bücheratlas
Maxim Biller ist kein Harmonie-Virtuose. Das ist nicht nur bei seinen Fernsehauftritten zu bemerken, sondern auch seiner Literatur eingeschrieben. Exemplarisch steht dafür der Roman „Esra“, der weiterhin dem Buchhandel vorenthalten wird, weil die Justiz die Persönlichkeitsrechte einer real nachweisbaren Romanheldin verletzt sieht. Zwar hat nahezu jedes Werk eine autobiographische Grundierung – und sei es, dass das Interesse des Autors an einem Thema deutlich wird. Bei Biller ist es freilich so, dass er durchaus deutlich die eigene Familiengeschichte ausstellt. Warum er das macht?
Der Antwort kommen ein wenig näher in seinem neuen Roman „Sechs Koffer“, der auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis steht. Sein Ich-Erzähler, der unverkennbar Züge des Autors trägt und dem im Roman dieselbe Frage gestellt wird, sagt: „Weil ich keine Geheimnisse mag.“ Davon gibt es einige in der Familie Biller, wie sie in diesem Buche steht. So geht der Roman keiner geringeren Frage nach als derjenigen, wer denn den Großvater einst verraten hat. Ein Verrat, der zur Hinrichtung von Schmil Biller, dem „Taten“, führte, im Jahre 1960 in der Sowjetunion.
Was folgt, ist ein saftiges Erzählen, ein Aufmarsch profilierter Figuren und packender Szenen. Biller macht bekannt mit Vater Sjoma und Mutter Rada, mit den Onkeln Dima, Wladimir und Lev und einigen Personen mehr zwischen Moskau, Prag, Rio, Zürich und Hamburg. Dabei stößt der Erzähler an die Grenzen der Erinnerung, und der Leser wird mit der Frage konfrontiert, wie er selbst in diktatorischen Zeiten gehandelt hätte. Das ist manchmal verwirrend, wenn das Familiengestrüpp allzu dicht wird, und meistens anregend. Allerdings hätten dem Text ein paar Adjektiv-Kaskaden weniger gut getan – da erzählt er nicht nur von einer „gierigen“, sondern von einer „gierigen, brutalen, sentimentalen, paranoiden Schtetlfamilie“. Und in der gleichen Art immer wieder. Auch der Neigung, Gesichter zu kategorisieren, geht der Autor auffallend häufig nach – sei es ein „deutsches Vogelscheuchen-Gesicht“, sei es „mein kleines, strenges, vielleicht etwas zu jüdisches Gesicht“.
Im letzten Kapitel hat dann die Schwester Jelena ihren Auftritt, die ebenfalls ein Buch über die Familie geschrieben hat. Sie sagt, dass sich ihr mittlerweile noch mehr Fragen stellten als zuvor. Maxim Biller geht es mutmaßlich genauso. Und der Leser weiß es am Ende schon gar nicht besser. Aber immerhin konnte er sich an einem – diese Kaskade gönnen wir uns jetzt einfach mal – kurzen, kauzigen, tragikomischen und auf jeden Fall kraftvollen Familienroman erfreuen.
Martin Oehlen
Maxim Biller: „Sechs Koffer“, Kiepenheuer & Witsch, 208 Seiten, 19 Euro. E-Book: 16,99 Euro.