
Foto: Bücheratlas
Die Frage stellt sich dem Leser der „Hochhausspringerin“ von Seite zu Seite drängender: Wie weit entfernt sind wir von der Zukunft, die in diesem Roman ausgestellt wird? Sind es 5000 Jahre – oder doch nur 50? Es ist eine Welt der totalen Kontrolle. Perfektion ist Trumpf. Wer nicht effizient arbeitet, wer seinen Köper und Geist nicht fit hält und wer gar die Regeln missachtet, dem droht der Verstoß an die Peripherien. Dahin, wo niemand leben möchte, weil die Menschen dort abgeschnitten sind von dem, was in dieser Zukunft erstrebenswert ist.
Diese Zwei-Klassen-Gesellschaft – die da drinnen und die da draußen – entwirft Julia von Lucadou mit hoher Akribie und Kreativität. Leiden literarische Zukunftsvisionen zuweilen unter ihrer Beliebigkeit, so ist die Welt der „Hochhausspringerin“ zwar in hohem Maße pervertiert, aber doch durchaus vorstellbar. Eine Dystopie, um endlich das Modewort in Stellung zu bringen, die von der Autorin mit faszinierender Konsequenz zum brutalen Ende gebracht wird – bis zum betreuten Suizid auf einer Anlage mit dem Namen Choice of Peace. „Sie möchten uns keine Last mehr sein“, säuseln die Betreuer, „und wir möchten, dass Sie sich an Ihren letzten Tagen leicht und ausgeglichen fühlen.“
Los geht die Geschichte mit einem Sprung von einem Hochhaus. Riva Karnovsky ist der Star der Szene – im freien Fall begeistert sie mit Figuren wie eine Turmspringerin. Nur stürzt sie nicht 1000 Meter tief einem Wasserbecken entgegen, sondern dem Straßenasphalt. Erst in letzter Sekunde kriegt sie in ihrem silbrig glitzernden Flysuit die Kurve und steigt wieder auf in die Lüfte. So wie Riva beherrscht niemand die Highrise-Diving-Show. Ja, auch Todesfälle sind in diesem Sportzirkus zu beklagen.
Doch eines Tages mag Riva, die Koryphäe mit der Identifikationsnummer MIT 2303 1151 8600, nicht mehr. Sie legt ihren Activity Tracker ab. Zieht sich zurück. Verweigert Pflichtuntersuchungen. Was sie nicht darf. Schließlich steht sie unter Vertrag. Vor allem aber: Was sollen die Sponsoren/Investoren sagen? In dieser Situation tritt Hitomi Yoshida in Aktion. Sie ist beauftragt, Riva wieder in die Spur zu bringen. Das System duldet keine Abweichler.
Hitomi nimmt nicht persönlich Kontakt auf. Vielmehr observiert sie ihre Zielperson per Überwachungskameras. Und sie instruiert erst Rivas Partner Aston, was er zu tun hat. Dann schleust sie Zarnee in die Wohnung ein. Bei der „Live-Analyse“ sendet sie ihm, während er im vertrauten Gespräch mit der ahnungslosen Riva ist, Tipps oder Anweisungen aufs Tablet.
Je länger sich Riva verweigert, desto schwieriger wird die Situation für Hitomi. Denn auch sie wird überwacht. Ihr Chef ist über jeden Schritt informiert, weiß, wann sie zu wenig geschlafen hat und wann sich erste Anzeichen von Erfolglosigkeit erkennen lassen. Hugo M. Master ist ein wahres Vorbild: Laut Fitnessprofil, das in der Mitarbeiterdatenbank einsehbar ist, verbrennt er im Sitzen mehr Kalorien als andere beim Gehen. Wie das? Er trommelt auf seine Oberschenkel oder schüttelt sich regelmäßig.
Hitomi könnte Zuspruch gebrauchen. Aber woher nehmen in dieser seelenlosen Selbstoptimierungswelt, in der man keinen Kontakt pflegt zu den „Bioeltern“. Immerhin, wenn man so will, gibt es eine App, den sogenannten Parentbot. Wer mag, der tippt auf „Mutter“ und wird dann mit der Simulation einer 50-jährigen Frau verbunden. Die reagiert im Dialog so schnell wie ein Mensch und kann Trost spenden: „Ich bin stolz auf dich, ob du weiterkommst oder nicht, sagt die Stimme.“ Klingt beruhigend für Hitomi, auch wenn Mama eine Maschine ist.
Julia von Lucadou, 1982 in Heidelberg geboren, lebt nach Angaben des Verlags in Biel, New York und Köln. Im November tritt sie ein dreimonatiges Stipendium als Stadtschreiberin in Bonn-Bad Godesberg an. Womöglich der Startpunkt für einen weiteren Roman. Was wie ein Versprechen wäre. Denn: Ihr literarisches Debüt ist ein starkes Stück Zukunft.
Martin Oehlen
Julia von Lucadou: „Die Hochhausspringerin“, Hanser Berlin, 288 Seiten, 19 Euro. E-Book: 14,99 Euro.
Lesungen
in Hamburg am 13. September 2018 um 19 Uhr im Nochtspeicher, Bernhard-Nocht-Straße 69a, 20359 Hamburg;
in Basel am 15. September 2018 um 15.30 Uhr im Jazz Campus Basel, Utengasse 15, 4058 Basel;
in Bielefeld am 1. Oktober 2018 um 20 Uhr im Eulenspiegel Buchladen, Hagenbruchstraße 7, 33602 Bielefeld;
in München am 2. Oktober 2018 um 19.30 Uh in der Buchhandlung Buch & Bohne, Kapuzinerplatz 4 (Eingang Häberlstraße), 80337 München;
in Freiburg am 9. Oktober 2018 um 20 Uhr in der Buchhandlung Rombach, Bertoldstr. 10, 79098 Freiburg;
in Frankfurt am 11. Oktober 2018 um 18.30 Uhr bei Open Books Frankfurt;
in Köln am 17. Oktober 2018 um 20 Uhr im Buchsalon Ehrenfeld, Wahlenstraße 1, 50823 Köln;
in Goslar am 19. Oktober 2018 um 19 Uhr im Mönchehaus Museum Goslar, Mönchestr. 1, 38640 Goslar;
in Berlin am 23. Oktober 2018 um 19.30 Uhr im Literaturhaus, Fasanenstraße, 10719 Berlin.
Pingback: 31. August 2018 – Geschichten und Meer