Die Kunst des Schreibens ist eine Tiefgarage: Nava Ebrahimi und Anna Kim sprechen über Fakten und Fiktionen, Therapie und Erkenntnis

Nava Ebrahimi (links) und Anna Kim im Palais Wilczek Foto: Bücheratlas ( M. Oe.)

Nava Ebrahimi und Anna Kim sind nahezu gleich alt, kommen aus einem außereuropäischen Kulturkreis, veröffentlichen in deutscher Sprache und leben in Österreich. Überdies haben sie jüngst Auskünfte über ihr Schreiben in Buchform veröffentlicht: „Wer ich geworden wäre, wenn alles ganz anders gekommen wäre“ heißt es bei Nava Ebrahimi, „Zwischen Fakt und Fiktion“ bei Anna Kim. Was sie damit sagen wollen, erörterten sie nun im Gespräch mit Manfred Müller in der Österreichischen Gesellschaft für Literatur.

Blumenwiese und Buttercremeorte

Diese zumal aus Bundesmitteln finanzierte Einrichtung ist – so viel Zeit muss sein – im Palais Wilczek in der Wiener Herrengasse untergebracht, einem Barockpalais in der Innenstadt, das 1719 nach einem Entwurf von Anton Ospel erbaut worden ist. Das Haus ist nicht zuletzt durch die zeitweise Gegenwart von Franz Grillparzer und Joseph von Eichendorff zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Literatur-Adresse ausgewiesen.

Nun also der Auftritt des Duos in der ersten Stiege, zweiter Stock. „Warum sitze ich an meinem Schreibtisch und formuliere Sätze, wenn ich stattdessen auf einer Blumenwiese herumhüpfen, Buttercremetorte essen oder auf der Couch liegen und mir lustige YouTube-Videos anschauen könnte?“, fragt Nava Ebrahimi in ihrem Buch. Ja, warum?

Nava Ebrahimi Foto: Bücheratlas / M.Oe.

„Festhalten, Mitteilen, Verbindendes erkennen“

Im Gespräch führt sie aus, dass das Schreiben neben den schönen Aspekten auch schmerzhaft und anstrengend sein könne. All das auf sich zu nehmen, hänge wohl mit ihrer Migrationserfahrung zusammen. Mit Revolution in Teheran und Integration in Köln, im Westerwald und in Bad Ems. Da habe es so viele Zufälle und Schicksale gegeben! Sie habe das Verlangen verspürt, diesen Brüchen im Lebenslauf einen Ausdruck zu verleihen – so in dem Roman „Sechzehn Wörter“ (den wir HIER vorgestellt haben). In diesem Zusammenhang fügt sie unumwunden hinzu, dass das Scheiben für sie auch einen therapeutischen Aspekt habe.  

Drei grundsätzliche „Bedürfniskomponenten“ hat sie ausfindig gemacht: „Festhalten, Mitteilen, Verbindendes erkennen.“ Etwas genauer? Okay. Zunächst gehe es darum, Gedanken, Gefühle und Beobachtungen festzuhalten, um sie besser verstehen zu können. Dann gebe es das Bedürfnis, „mich mitzuteilen und erkannt zu werden“. Schließlich melde sich das Bedürfnis, „mich mit anderen Menschen, die mit ihren Erfahrungen an meine anknüpfen, zu verbinden, sodass die Trennung zwischen Autor- und Leserschaft in den Hintergrund und das Geteilte in den Vordergrund rückt.“

„Auf jedem Deck finden sich freie Parkplätze“

Die Kunst des Schreibens erscheint Nava Ebrahimi – und so hat es wohl noch niemand gesehen – wie eine Tiefgarage: „Auf jedem Deck finden sich freie Parkplätze, auf die ich mich stellen, aussteigen und den Schlüssel einstecken könnte. Ich kann auf der obersten Ebene parken, ich kann aber ebenso gut noch eine Ebene tiefer fahren und dort findet sich ebenfalls ein passender Parkplatz, auf dem ich die Fahrt beenden könnte.“

Anna Kim, 1977 in Südkorea geboren und in Österreich zuhause, hatte zunächst lange Zähne, als es darum ging, über eine Salzburger Stefan-Zweig-Poetikvorlesung nachzudenken. Dabei handelt es sich um die Grundlage ihrer jüngsten Veröffentlichung. Sie sei gar nicht so sehr am eigenen Tun interessiert, sagt sie, sondern weitaus mehr reize sie alles andere: „Ich finde die Welt viel spannender.“

Anna Kim Foto: Bücheratlas / M.Oe.

„Ich möchte verstehen“

So habe sie auch weniger eine Theorie des Schreibens formuliert, sondern sich den praktischen Fragen zugewendet. Zum Beispiel jener nach der Recherche, die für ihr Scheiben sehr wichtig gewesen sei: „Ich möchte verstehen, deshalb recherchiere ich.“ Da stehen keine migrantischen oder postmigrantischen Erfahrungen im Mittelpunkt, denn als Migrantin habe sie sich nie wahrgenommen. Tatsächlich basieren ihre Romane „Anatomie einer Nacht“, „Die große Heimkehr“ und „Geschichte eines Kindes“ (den wir HIER vorgestellt haben) allesamt auf realen Ereignissen – auf dem Selbstmord eines achtjährigen Jungen in Grönland, auf dem Verschwinden einer japanisch-koreanischen Jugendlichen und auf einer Adoptionsakte aus den USA. Dabei gehe es ihr in erster Linie nicht um die einzelnen Charaktere, sondern um die Aufdeckung der gesellschaftlichen Strukturen.

So wie Anna Kim nichts wissen will von Ideologien, so hält sie auch nichts von einer poetologischen Festlegung. Die Kunst ermögliche uns, sagt sie, Grenzen zu überschreiten – und das sei „der Ausdruck von Freiheit“. Dabei habe sie immerzu die Lesenden im Blick. Sie wolle nicht elitär, sondern egalitär schreiben. Möglichst jeder und jede solle mitkommen. „Kunst muss ich brauchen können“, sagte Anna Kim zum Schluss. „Brauchen“ in jeder Hinsicht – auch um das Wissen über Menschen zu erweitern.

Martin Oehlen

Auf diesem Blog

haben wir bereits in anderem Zusammenhang über die beiden Autorinnen berichtet. Anna Kims Roman „Geschichte eines Kindes“ aus dem Suhrkamp Verlag haben wir HIER und Nava Ebrahims Roman „Sechzehn Wörter“ aus dem Verlag btb HIER vorgestellt. 

Nava Ebrahimi: „Wer ich geworden wäre, wenn alles ganz anders gekommen wäreHerkunft. Identität. Imagination, Droschl, 96 Seiten, 15 Euro.

Anna Kim: „Zwischen Fakt und Fiktion“, Sonderzahl, 144 Seiten, 20 Euro.

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