
Von Joy Williams sind wir schon einiges gewöhnt. Nur Gutes, versteht sich. So machten zuletzt die deutschen Übersetzungen einiger „Stories“ sowie des Romans „In der Gnade“ mächtig Eindruck. Nun wird nachgelegt: „Stories 2“ wartet abermals auf mit Geschichten aus dem Amerika der Verlorenen und Enttäuschten. Die Geschichten stammen aus fast 50 Jahren – die älteste aus einem Sammelband von 1972, die frischste von 2020. Trotz dieser großen Zeitspanne wirken die Texte recht homogen, was sicher auch der Übersetzung zu verdanken ist, die diesmal Julia Wolf besorgt hat. Sie hat unter anderem Samantha Harveys „Umlaufbahnen“ übersetzt – einen Roman, der den Booker-Preis gewonnen hat und den wir HIER vorgestellt haben.
Überfordert vom Alltag
Ja, es sind Short Stories. Doch der Kürze zum Trotz kommt man den Protagonisten sehr nahe. So nahe jedenfalls, dass man versucht sein könnte, eingreifen zu wollen: sie am Arm zu packen und zum Durchatmen und zur Besonnenheit zu ermutigen. Denn überfordert vom Alltag sind sie alle. Das liegt nicht nur an ihnen, sondern auch am Alltag.
Nehmen wir nur einmal Henry, der eine herzensgute – einige sagen: „rührselige“ – Kolumne in einem Gemeindeblatt schreibt. Eines Tages eröffnet ihm ein Arzt, dass er Lungenkrebs habe und bald sterben werde. Doch sogleich stellt der Mediziner fest, dass der Befund verwechselt worden ist: Der Patient sei ja gar nicht 85 Jahre alt, wie es in der Krankenakte stehe, sondern erst 63. Henry ist erleichtert. Dann sagt der Arzt: „Tatsächlich haben Sie ebenfalls Lungenkrebs, allerdings in einem schon etwas fortgeschritteneren Stadium.“ Doch Joy Williams begnügt sich nicht mit einer solch dramatischen Wendung. Vielmehr schickt sie Henry nun zurück in eine Welt, die ihn nicht stützt, sondern zurückweist. Das ist bitter.
Alkohol und Bibelstunden
Bitternis treibt viele um. Da helfen keine Bibelstunden und kein Alkohol. Gleichwohl fließen Gin und Whiskey durch einige Geschichten: „Wenn er auf Reisen war und sie von unterwegs anrief, hörte sie das Eis in seinem Glas klirren.“ Oft geht es um gestörte Ehen: „Sie konnten über alles streiten.“ Daraus entwickeln sich gestörte Kindheiten. Und wenn die Kinder erwachsen sind, lassen sie sich zuweilen auf Beziehungen ein, die nicht funktionieren. Ein Kreislauf, so scheint es.
Keine Liebe, keine Nähe, keine Harmonie. Ist das Amerika? Die Kurzgeschichten der Joy Williams legen diesen pauschalen Eindruck nahe. Allesamt sind es Heldinnen und Helden der traurigen Gestalt. Von ihnen erzählt die Autorin, Tochter eines Predigers, mit einer Art empathischer Lakonie. Sie lässt diesen Menschen ihre Würde. So wie der Frau, die mit einer elektronischen Fußfessel im Frisierstuhl sitzt. Es ist nur eine Nebenfigur. Aber dennoch fällt sie auf. Die Fesseln, sagt die Frau, funktionierten überhaupt nicht: „Ich könnte das verdammte Ding auch abmachen, aber irgendwie finde ich es schick.“
Nachhall statt Pointe
Die Geschichten dieser Story-Sammlung gehen nicht gar so steil wie etwa in „Lu-Lu“ aus dem ersten Band, der vor zwei Jahren erschienen ist. Da erinnern wir uns gerne an Heather, die Erde auf die Rückbank ihres Autos schippt, um mit einer Schlange einen Ausflug zu machen und gemeinsam eine glückliche Zeit zu genießen.
Gleichwohl packen auch die neuen alten Geschichten kräftig zu. Dabei bleiben die Enden in aller Regel offen. Joy Williams‘ Stories setzen nicht auf eine finale Pointe, sondern auf Nachhall. Mit Erfolg.
Martin Oehlen
Auf diesem Blog
haben wir von Joy Williams den ersten Band mit „Stories“ HIER und den Debütroman „In der Gnade“ HIER vorgestellt.
Samantha Harveys preisgekrönten Roman „Umlaufbahnen“, den Julia Wolf übersetzt hat, gibt es HIER.
Joy Williams: „Stories 2“, dt. von Julia Wolf, dtv, 318 Seiten, 26 Euro. E-Book: 19,99 Euro.
